Für die Wallfahrtsforschung in Schleswig Holstein istSelent durchaus keine Neuentdeckung, denn die Hauptpfarrkirche der Gemeinde wird in zahlreichen spätmittelalterlichen Quellen und Testamenten als Wallfahrtsziel benannt. In seinem 1424 verfassten Testament will der Lübecker Bürger Hans de Bole einen Pilger zum Heiligen Blut nach Wilsnack senden, der danach auch noch „sunte Servase in dat land to Holsten“ (Testament des Hans de Bole, Lübeck 25.Januar 1424, zit. nach Meyer, Gunnar: Besitzende Bürger…, Lübecker Testamente, Bd. 1, 2010, S. 411.)aufsuchen sollte. Tatsächlich gehört die Kirche zu den ältesten Feldsteinkirchen der Region. Um 1180/90 errichtet, wird sie bereits 1197 erstmalig urkundlich erwähnt. Der Anlass ist die Übertragung der Patronatsrechte an den Bischof von Lübeck. Doch warum Servatius?
Die Stiftung der Selenter Servatiuskirche ist eng mit der Slawenmission im 12.Jh. verknüpft. Das Patrozinium des Heiligen Bischofs Servatius von Tongeren (gest. 384) weist dabei auf niederländische Einwanderer hin, die im Gebiet des Landesherren Graf Adolf II. von Schauenburg siedelten. Der Heilige Servatius wurde als Eisheiliger gegen Kälte und Unwetter angerufen und mag für die Menschen der Region eine anschauliche Heiligengestalt gewesen sein. Wie Bauernregeln sagen: „Servaz muss vorüber sein, willst vor Nachtfrost sicher sein.“ Dass die Selenter Kirche sich später zur Wallfahrtskirche entwickelt hat, mag ebenfalls dem Patrozinium geschuldet sein. Immerhin war das Grab des Heiligen Bischofs in Maastricht im 13. Jahrhundert einer der meist besuchten Wallfahrtsorte Europas. Auch im Fund aus dem Stader Hafen finden sich Pilgerzeichen aus der Maastrichter Servatiuskirche. Anders als in Maastricht ist das genaue Verehrungsinteresse der Wallfahrer in Selent nicht bekannt: Über hier gezeigte Reliquien des Heiligen, eine Servatiusfigur oder ein Bildnis, besitzen wir keinerlei schriftliche Zeugnisse. Allein im Westturm hat sich ein spätmittelalterlicher Opferstock erhalten.
Dafür, dass Selent für die norddeutschen Gläubigen ein „Kleines Maastricht“ war, sprechen auch der imposante Bau mit Turm und die Ausstattung der Kirche. Schon in der zweiten Hälfte des 13. Jhdts. wurde die Kirche um zwei Joche nach Osten erweitert und im 14. Jahrhundert mit Kreuzrippen und einem Sterngewölbe im ‚Vierungsjoch‘ eingewölbt (vgl. Bettina Gnekow: St. Servatius zu Selent und die mittelalterliche Kirchenarchitektur im Kreis Plön, in: Jahrbuch für Heimatkunde im Kreis Plön, 21 (1991), S. 14-46; Gerd Stolz: St. Servatius in Selent: Fragen aus der Geschichte, in: Jahrbuch für Heimatkunde im Kreis Plön, 27 (2009), S. 99-117). Zudem genoss die Kirche eine Förderung durch den Adel: Bereits 1346 ist eine Vikarienstiftung und Memorialkapelle für den Ritter Hinrich Split belegt. (Irmtraud Engling: Die Vikarienstiftungen in der Kirche von Selent: ein Stück mittelalterlicher Kirchengeschichte, in: Jahrbuch für Heimatkunde im Kreis Plön, 27 (1997), S. 41-54.) Auf der Südseite stiften die Söhne des Klaus Rantzau um 1477 eine Kapelle, ein Epitaph (1484) steht dort noch heute.
Ein geschnitztes Flügelaltarretabel mit Passionsszenen und eine spätmittelalterliche Triumphkreuzgruppe sind weitere Belege für die Bedeutung der Kirche im ausgehenden 15. Jahrhundert. Bestechend ist hier sicher die Parallelität zur Ausstattung der Lütjenburger Kirche (vgl. den Blog vom 4. März 2019).
Auf der Rückseite ließ sich die Predella durch eine große Lade öffnen, was für ein Reliquiendepositum sprechen könnte. Welche Art von Inszenierung für die Pilger damit einherging, bleibt hingegen offen.
Der Harlunger Berg oder auch Marienberg im Nordwesten der Stadt Brandenburg gelegen stellte in der Wallfahrtsforschung ein Art Phantom dar: Einerseits soll diese Kirche die älteste Wallfahrtskirche Brandenburgs und schon im 13. Jh. „in ganz Deutschland“ berühmt gewesen sein. Andererseits fehlte es bisher an soliden Zeugnissen, dass sie überhaupt von Wallfahrern besucht wurde – zumindest vor dem 15. Jh.
Auf der Erhebung vor den Toren der Altstadt Brandenburg soll bis zur endgültigen Christianisierung in der Mitte des 12. Jh. ein slawisches Heiligtum gestanden haben. Dieses sei noch vor 1165 durch eine Marienkirche ersetzt worden, die dem neu gegründeten Domkapitel übergeben wurde. Wohl um 1220 errichtete man an Stelle des ersten Baus eine imposante Kreuzkuppelkirche – angeblich als Wallfahrtskirche. Diese Annahme passt allerdings nicht recht zu unserer Kenntnis des mittelalterlichen Wallfahrtswesens, denn östlich des Rheins gab es vor dem 14. Jh. keine Wallfahrtskirchen – vielleicht einmal abgesehen von ganz wenigen Ausnahmen wie der Marburger Elisabethkirche.
Im Fall der Brandenburger Marienkirche verweisen bis zum Ende des 14. Jh. nur sehr spärliche Hinweise auf ihren wallfahrtsmäßigen Besuch. Erst nachdem die Hohenzollern als neue Landesherren diese Kirche besonders zu fördern begannen und hier 1435 ein eigenes Praemonstratenserstift entstand, häufen sich Zeugnisse für ihren Besuch. In einer Urkunde von 1448 wird auch der Verkauf von „teyken“, also Pilgerzeichen, erwähnt. Entsprechende Originale oder Abgüsse sind aber bisher nicht bekannt gewesen. Dies hat sich nun geändert!
Eine kreisrunde Plakette mit dem Relief einer Marienkrönung, die schon 2012 archäologisch in Hamburg-Harburg geborgen wurde, konnte jetzt als Pilgerzeichen vom Marienberg identifiziert werden. Zwar ist der Rand der Plakette mit seiner umlaufenden Inschrift nur teilweise erhalten, doch ist auf dem erhaltenen Rest sicher „MARIE BRANDE(N)BORG[ENSIS]“ zu lesen. Der Schrift nach zu urteilen muss das Objekt in der Mitte des 14. Jh. hergestellt worden sein – in einer Zeit also, als die Herstellung von Pilgerzeichen noch keineswegs so allgemein verbreitet war, wie es im 15. Jh. der Fall war.
Die Darstellung der Marienkrönung auf dem Pilgerzeichen weist
eine deutliche Ähnlichkeit mit dem Siegel des 1435 gegründeten Praemonstratenserstiftes
auf dem Harlunger Berg auf, dessen Stempel sich im Domstiftsarchiv erhalten
hat.
Das von der Brandenburger Marienkirche nach Hamburg-Harburg gelangte Zeichen ist zwar kaum ein Beleg für den deutschlandweiten Besuch dieser Kirche, stellt aber ein gewichtiges Indiz für die hier im 14. Jh. bestehende Wallfahrt dar.
Rettungen aus irdischen Notlagen, aus Krankheit, Gefangenschaft, Seestürmen oder Feuersbrünsten waren neben der Erwerbung von Ablässen als Ausgleich für die jenseitigen Fegefeuerstrafen die wichtigsten Motive, um im Spätmittelalter einen Wallfahrtsort aufzusuchen. Aufzeichnungen von solchen wunderbareren Rettungen gab es selbstverständlich auch an vielen norddeutschen Wallfahrtskirchen. Aber von diesen Mirakelbüchern hat sich keines erhalten. Nur in wenigen Fällen wissen wir immerhin noch, dass es diese Texte gab und kennen einzelne der darin bewahrten Erzählungen, so aus dem Kloster Marienwohlde, aus den Hildesheimer Michaelskloster oder aus der Wilsnacker Wallfahrtskirche. Auch darum ist eine Wunder-Handschrift für unsere Forschungen von besonderem Interesse: Das Mirakelbuch des Theobaldsmünsters in Thann (Département Haut-Rhin). Die Kirche des hl. Theobaldus im Elsass wurde seit der Mitte des 14. Jahrhunderts auch von zahlreichen Pilgern aus Norddeutschland aufgesucht, die den Besuch bei dem in Norddeutschland auch „Ewald“ genannten Heiligen häufig mit einer Reise nach Einsiedeln verbanden. Das mittelalterliche Mirakelbuch hatte der Colmarer Bibliothekar Johann Georg Stoffel (1819-1880) im Jahre 1875 herausgegeben, nachdem es kurz zuvor auf dem Speicher des Pfarrhauses in Heimsbrunn wiederentdeckt worden war. Die Pergamenthandschrift enthält 215 Wunderberichte aus der Zeit von 1405 bis 1521. Die darin genannten Personen kamen nicht nur aus dem Elsass und Lothringen, sondern es werden auch viele Pilger aus anderen Teilen des Reiches genannt, wobei Norddeutschland besonders stark vertreten ist: Schleswig und Holstein, die Städte Bremen, Stade, Hamburg, und Lübeck, sowie Mecklenburg und Pommern.
Das Mirakelbuch war in den ersten Jahrzehnten nach dem Erscheinen der Edition 1875 für zahlreiche regionalhistorische Studien zum Wallfahrtswesen in Norddeutschland benutzt und auch in den letzten Jahrzenten immer wieder einmal herangezogen worden. Mit der Handschrift scheint sich aber seit dem Herausgeber Stoffel niemand mehr befasst zu haben, so dass ihr Standort selbst in der einschlägigen deutschen Forschung zuletzt unbekannt war. So rückte die Frage nach dieser Handschrift gleich am Beginn unseres Projektes in den Blickpunkt. Der entscheidende Hinweis kam von Elisabeth Clementz, Dozentin am Institut für elsässische Landesgeschichte der Universität Straßburg, die im Oktober 2018 mitteilte, die Handschrift befinde sich als Dauerleihgabe der dortigen Pfarrkirche im Stadtarchiv Thann. Da eine Anfrage zur Ausleihe der Handschrift für die geplante Ausstellung leider abschlägig beschieden wurde, haben wir eine Digitalisierung der Handschrift vorgeschlagen, um sie leichter zugänglich zu machen. Auf diese Anregung hin wurde Handschrift dankenswerter Weise vom Departement-Archiv in Colmar gescannt und steht nun allen Interessierten auf den Seiten der Bibliothèquevirtuelle des manuscrits médiévaux unter folgendem Link zur Verfügung: https://bvmm.irht.cnrs.fr/consult/consult.php?REPRODUCTION_ID=2322
Der folgende Text nimmt eine Anregung der Lüneburger Tagung auf, über die im letzten Blog berichtet wurde. Gegenwärtig wird das Bild der Santiagofahrten von jenen Pilgern bestimmt, die sich zu Fuß auf den Weg nach Nordspanien machten und machen. Aus Norddeutschland kennen wir allerdings aus dem späten Mittelalter keine Person, über deren Reise auf dem Landweg zum Grab des Apostels Jakobus Genaues bekannt wäre. In den historischen Quellen dominieren jene Reisenden, die sich mit dem Schiff – etwa von Antwerpen, Hamburg oder Stralsund aus – auf den Weg durch die Biskaya nach La Coruña machten. Von dem Atlantikhafen aus war Santiago bequem in zwei Tagereisen zu erreichen. Aber waren seit dem späten 14. Jahrhundert tatsächlich alle norddeutschen Santiagopilger, die sich dies leisten konnten, mit dem Schiff nach Santiago unterwegs? Bei der Diskussion dieser Frage wurde auf der Tagung an eine wichtige Quelle erinnert, die schon lange als verschollen gilt, an deren endgültigen Verlust wir aber noch nicht glauben wollen: 1518 stellte der Braunschweiger Drucker Hans Dorn einen niederdeutschen Santiago-Pilgerführer mit dem Titel „De overen unde meddelen straten van Brunswygk tho sünte Jacob in Galicien/ tho Compostella/ Anderwerff gecorregeret/ vnde mit mehr thogesatten“ her. Der Autor oder zumindest der die Textvorlage verbessernde Bearbeiter war Gerdt Helmich, einer der Älterleute der Bruderschaft St. Jacobi an der Hildesheimer Andreaskirche. In der Forschung wurde immer wieder vermutet, dass es sich bei diesem DRuck um die Bearbeitung des von dem Servitenmönch Hermann Künig von Vach verfassten Pilgertextes „Die walfart vnd Straß zu sant Jacob“ handelt, der 1495 erstmals in Straßburg gedruckt wurde. Ob dies zutrifft ist aber fraglich.
Der Braunschweiger Geistliche und Chronist Philipp Julius Rehtmeyer scheint der letzte gewesen zu sein, der ein Exemplar dieses Druckes benutzte. Er teilte 1720 in seiner Braunschweiger „Kirchen-Historie“ 1720 mit, man könne aus ihm erfahren, „wie solche Reise von Braunschweig ab, über Cölln am Rhein, bis nach Paris und endlich Compostell am besten fast von Tage zu Tage, von einem Ort zum andern könte angerichtet werden“.
In der niederdeutschen Bibliographie von Conrad Borchling und Bruno Claussen aus dem Jahr 1931 (1. Band, Nr. 613) wird der Druck als „verloren“ gebucht und auch das umfangreiche Projekt der deutschen Nationalbibliografie für das 16. Jahrhundert (VD 16) hat bislang kein Exemplar ausfindig machen können. Angesichts dieser Situation wäre es ein Glücksfall, wenn doch noch ein Exemplar des Braunschweiger Pilgerführers auftauchte. Ganz ausgeschlossen ist dies aber nicht, denn die Bestände von kleineren Bibliotheken und Sammlungen sind in ihrer Mehrheit vom VD 16 bibliographisch noch gar nicht erfasst. Wer daher auf eine Spur des verschollenen Druckes stößt, gebe über einen Kommentar oder die Kontaktadresse des Projektes Bescheid. Ein wiedergefundenes Exemplar erhielte – nicht nur in der Ausstellung – einen Ehrenplatz!
Die Tagung zu
Pilgerfahrten und Wallfahrtskirchen
zwischen Weser und Elbe, die vom 3.-5. April 2019 in Lüneburg stattfand, bot
erste Perspektiven aus dem inzwischen ein Dreivierteljahr laufenden
Forschungsprojekt, über das hier fortlaufend berichtet wird. Deshalb soll an
dieser Stelle über die Veranstaltung berichtet werden.
Das rege Interesse an der Thematik der Pilgerfahrten und Wallfahrtskirchen
im deutschen Norden zeigte sich bereits bei der festlichen Eröffnung im
Fürstensaal des Lüneburger Rathauses, zu der zahlreiche Gäste und Interessierte
erschienen. Auch in den Grußworten derFörderInnen und
InstitutionsverteterInnen Eduard Kolle, Bürgermeister, der
Museumsdirektoren Heike Düselder (Lüneburg) und Sebastian Möllers
(Stade) sowie Andreas Hesse von der Klosterkammer Hannover und Tabea
Golgath von der Stiftung Niedersachsen war die Spannung und Freude über das
Unterfangen zu spüren.
Von der Bedeutung des Projekts für die Mediävistik musste man schon nach dem ersten Vortrag überzeugt sein. Hier präsentierte Hartmut Kühne, der wissenschaftliche Leiter des Projekts, einen Forschungsüberblick zum mittelalterlichen Wallfahrtswesen in Niedersachsen und schloss mit einem ernüchternden Fazit. So beklagt Kühne in Bezug auf die religiöse mittelalterliche Kultur im norddeutschen Raum ein großes Forschungsdesiderat sowie große Verluste von Architektur und Kunstgut sowie Quellen und Wissen zur Heiligenverehrung insgesamt. Das alles sollte dennoch nicht über das reiche mittelalterliche Wallfahrtswesen in dieser Region hinwegtäuschen, welches durch die Stader Funde eindrucksvoll belegt wird. Sie konterkarieren auch die „weißen Landstriche“ auf der 1979 von Lionel Rothkrug (Popular Religion and Holy Shrines. Their Influence on the Origins of the German Reformation and Their Role in German Cultural Development, in: Religion and the People 800-1700, hg. von James Obelkevich, Chapel Hill 1979, S. 20-86) veröffentlichten Übersichtskarte mittelalterlicher Wallfahrtsorte in Deutschland und zeigen, dass eine Revision der mittelalterlichen Wallfahrtsgeografie von der Weser bis in die Elbregionen dringend geboten ist.
Neben den ehemaligen Wallfahrtskirchen und -kapellen nimmt das Projekt, wie Kühne betont, norddeutsche Reisende auf den Wegen zu den großen Pilgerkirchen im römisch-deutschen Reich sowie nach Santiago de Compostela, Rom und Jerusalem in den Blick. Der Strahlkraft dieser Heiligen Stätten widmete sich auch der abendliche Festvortrag des israelischen Diplomaten und Historikers Mordechay Lewy (Bonn) zur „Wahrnehmung des Stadtbildes von Jerusalem im Spätmittelalter“. Mit dem Kunstbegriff der ‚Kartogenealogie‘ umriss Levy, wie Pilgernde nach Jerusalem spezifische Merkmale und Jerusalembilder in die Heimat transportierten, sie hier an die eigenen Erwartungen und Stadtbilder anglichen und durch Kunststiftungen in „ein ständiges Dejà vu“ Jerusalems übersetzten. Am Beispiel der Nürnberger Familie Ketzel ging Levy auch auf die kommunikativen und repräsentativen Aspekte der Pilgerfahrten ein, die das soziale Image der Nürnberger Familie Ketzel aufwerteten. Eingehend erörterte Levy den Kontext der Gothaer Pilgertafel (um 1500, Gotha, Schloss Friedensstein), die vermutlich von einem ursprünglich der familiären Memoria gewidmeten Bildwerk durch Übermalung in eines der Erinnerung an die Heilig-Land-Pilgerfahrt Kurfürst Friedrichs des Weisen von Sachsen verwandelt wurde.
Die erste
Sektion am Folgetag eröffnete Klaus
Herbers (Erlangen), der sich seinem wissenschaftlichen Lebensthema, den
Pilgerfahrten zum Grab des Heiligen Jacobus Major in Santiago de Compostela aus
einer typisch ‚norddeutschen‘ Perspektive widmete: Tatsächlich ist die
Überfahrt der Pilger mit dem Schiff ebenso ein Akt der Imitatio und dem Pilger angemessen,
bedenkt man wie wichtig Wasser, Seefahrt und Meereswunder in der Jacobuslegende
sind. So reiste Jacobus‘ toter Körper mit einem Schiff übers Meer von Jerusalem
nach Galizien. Sein wundersames Erscheinen rettete später vor der Küste Seeleute,
Ritter und Pilger vor dem Ertrinken, wie Herbers anhand der Mirakel des Liber Sancti Jacobi zeigte. Dass nicht
nur der „tote Jacobus mit Schiffsreisen vertraut war“, sondern ebenso die
Gläubigen, die eine Wallfahrt nach Santiago häufig per Schiff antraten, müsse
die Forschung stärker berücksichtigen, so Herbers. Von der Struktur der Wege, dem
wirtschaftlichem Aufwand und Nutzen, die eine teure Seereise bedeuteten, bietet
das Meer noch viele Ansatzpunkte, um über die Jacobusverehrung nachzudenken.
Im
folgenden Vortrag breitete Heinrich
Dormeier (Kiel) die vielfältige Wallfahrtskultur der Lübecker BürgerInnen
im späten Mittelalter aus. Anhand der reich überlieferten Lübecker Testamente,
die Dormeier umfassend ausgewertet hat, aber auch in erhaltenen Kulturgütern
und Stiftungsdokumenten zeigt sich das dichte Raster von ‚Pilgerspuren‘ im
Norden von der Mitte des 14. bis zum ausgehenden 16. Jahrhundert und sogar
darüber hinaus. Zahlreiche neue und bekannte Quellen sowie gebaute, gemalte und
gedruckte Zeugnisse sprechen, so Dormeier, für eine höchst lebendige Lübecker
Wallfahrtskultur. Einen besonderen Blick lohne hier etwa die Verbreitung des
Rochus-Kultes, eines der Pilgerheiligen, die bislang nur wenig Aufmerksamkeit
erlangt haben, aber auch der Lübecker Kreuzweg, der Jerusalem sogar im genauen
‚Maßstab‘ vergegenwärtigt haben soll. Das Zusammenspiel der Suche nach
täglicher Gnade und der Sehnsucht nach der authentischen Heilserfahrung einer
Pilgerfahrt zeigt sich hier mehr als deutlich.
Mit dem
Vortrag von Carsten Jahnke (Kopenhagen)
wurde die spannungsreiche, aber eher selten in den Blick genommene Pilgerfahrt
aus Dänemark, Norwegen und Schweden an die Heiligen Stätten thematisiert.
Jahnke machte deutlich, wie Pilgerrouten aus dem hohen Norden sich in Richtung
Süden (über die Elbe, Mitteldeutschland und die Alpen) oder aber in Richtung
Osten (über Polen und Konstantinopel) entwickelten und welchen natürlichen
sowie politischen Zwängen sie dabei unterworfen waren. Gleichzeitig
veranschaulichte er die Bedeutung dieser Pilgerziele für die Mythenrezeption in
Dänemark, denkt man etwa an Harald den Harten, der beim Wiederaufbau der
Grabeskirche in Jerusalem 1037 eine tragende Rolle gespielt haben soll. Auch
Reisen nach Santiago de Compostela sind früh bezeugt. Und schließlich berichten
Viten regionaler Heiliger aus Dänemark – womöglich in Bezug auf die Jacobusvita
– von einer Anschwemmung des Körpers. Weitere fruchtbare Bezüge offenbarte die
anschließende Diskussion: Von der raschen Ausbreitung der Birgittenverehrung in
Norddeutschland (Mai-Britt Wiechmann) bis hin zu einem Verweis auf Margarethe
von Dänemarks Engagement in Meißen (Enno Bünz) oder den grenzübergreifenden
Stiftungen der Herren zu Rantzau (Arend Mindermann).
Die
folgende Sektion widmete sich einzelnen Pilgern, Wallfahrten und Quellen aus
Lüneburg und Stade. So stellte Arend
Mindermann (Stade) die in der bis 1256 reichenden Annales Stadenses beschriebene Romreisedes Albert von Stade (vor 1187-1264) vor. Der Abt des Stader Marienklosters, der für eine Reform
nach dem Vorbild der Zisterzienser eintrat, war vermutlich schon im Sommer 1235
nach Rom gereist, um sich die neue Regel bestätigen zu lassen. Mindermann zeigte
am Beispiel Alberts nicht nur die politischen Dimensionen des Wallfahrens auf,
sondern auch die Auseinandersetzung mit bestimmten Streckenverläufen. So
scheint es Albert mit seinem ‚Umweg‘ über Frankreich vor allem auf die
Keimzellen des Zisterzienserordens abgesehen zu haben, deren Regel er auch in
Stade übernehmen wollte. Dass der Abt als einzigen Wallfahrtsimpuls eine
Johannisreliquie erwähnt, ist möglicherweise ebenfalls einem individuellen
Interesse an dem Heiligen, der in Stade sehr verehrt wurde, geschuldet.
Für die
meist durch Suppliken motivierten Reisen von Klerikern nach Rom bot Jörg Voigt (Rom) zahlreiche weitere Beispiele,
vor allem aus der Hansestadt Lüneburg im 14./15. Jh. an. So der Lüneburger
Bürgermeister Albert van der Molen, der im Zusammenhang des Lüneburger
Prälatenkrieges vom Stadtrat 1453 nach Rom entsandt wurde, um in einem
Rechtstreit zugunsten der Stadt an der Kurie zu intervenieren.. Über den
Brenner und die Stadt Padua gelangte van der Molen nach Rom, wo seine Mühen trotz
der Unterstützung durch den Kurialen Hermann Düker (zugleich Propst auch zu
Bremen und Pfarrer zu Lunden in Dithmarschen) ebensowenig zum Erfolg führten,
wie die evtl. als Bestechungsgeschenk
gekaufte „köstliche Bottel“. Allein die Gelegenheit, die sieben Pilgerkirchen
Roms zu besuchen, verschafften dem Lüneburger Genugtuung. Erfolgreicher agierte
an der Kurie der Probst des Klosters Lüne, Nikolaus Graurock, dessen Romreisen Voigt
ebenfalls behandelte.
Die materiellen Zeugnisse solcher Romreisen und weiterer Pilgerfahrten in Lüneburg versuchte im Anschluss Ulfert Tschirner (Lüneburg) zu konkretisieren. In den Sammlungen der Lüneburger Museen und Kirchen befinden sich zwar nur noch wenige einschlägige Stücke. Dafür geben spätere Quellen wie das Reisebuch des Zacharias Konrad von Uffenbach (1756) einen Einblick in die ehemals vorhandene reiche Materialüberlieferung Lüneburgs, etwa mit dem ‚Pilgermuseum des Herrn Schröder‘, der Naturaliensammlung des Bürgermeisters Tobias Reymers, das zahlreiche Objekte aus dem Heiligen Land enthielt, oder dem Wunderkabinett des Hartwig von Dassel. Im heutigen Bestand sind die Funde allerdings schmal, so Tschirner. Allein einige römische Agnus Dei-Scheiben mit Schaukapseln und ein kostbarer Rosenkranz aus Gagat, der auf Santiago de Compostela verweist, sind erhalten. Diese und weitere Objekte sollen in der späteren Ausstellung erschlossen werden.
Mit dem
„Wunder an der Werra“, das Thomas Müller
(Mühlhausen) beschrieb, ging die Tagung schließlich auf die regionalen
Wallfahrfahrtsorte zu. Der thüringische ‚Hülfensberg‘ im Eichsfeld nahe des
Klosters Anrode ist nach Müller einer der wichtigsten ‚Transitwallfahrtsorte‘
des mitteldeutschen Raumes: In zahlreichen Lübecker Testamenten werden Legate
für eine Wallfahrt zum ‚Salvator‘ oder ‚Gehülfen‘ erteilt. Ziel der Pilger war
das Kruzifix, dessen monumentale romanische Christusfigur offenbar schon im 13.
Jh. bekleidet und als wundertätig verehrt wurde. Zeugnis für seine Verehrung
geben Pilgerzeichen, aber auch Kopien des ‚Gehülfen‘ (Bamberg, Bremen)
nachweisbar sind sowie zahlreiche Kapellen und Kirchen ‚ad Sunte Hulpe‘. Weiteren
Forschungsbedarf zeigte die Diskussion zur Überschneidung der Gehülfenverehrung
mit dem Kult des Volto Santo in Lucca
und einem Märtyrer Hulpe im Raum Oldenburg und Plön, die ein weiterer Vortrag
von Andreas Röpcke (Schwerin) bearbeitet.
Die Reihe
der mirakulösen Wallfahrtsorte, die vor allem regionale Bedeutung besaßen,
führte Irmgard Haas (Hannover) mit
ihren sehr kundigen Beobachtungen und Recherchen zum wundertätigen Marienbild
in Hainholz vor Hannover fort. Aus dem 15. Jahrhundert stammt das zugehörige Pilgerzeichen,
das eine stehende Maria mit Kind zwischen zwei Eichenbäumen zeigt. Einerseits
Regionalwallfahrtsort, belegen andererseits Lübecker Testamente und
Pilgerzeichenfunde, die bis nach Dänemark reichen, den weiten Einzugsbereich
der Kapelle am ‚Heynholte‘. Für die Forschung dürfte auch das von 1434-1443 geführte
Registrum (Rechnungsbuch) im Stadtarchiv Hannover von Interesse sein.
Eingehend
und mit großer Detailkenntnis der Quellen stellte Wolfgang Petke (Göttingen) die ‚Wallfahrt nach Nikolausberg‘ beim
Kloster Wende vor, deren angebliche Bestätigung durch Papst Alexander III im
Jahre 1162 sich einer späteren notariellen Fälschung verdankt; tatsächlich
begann die Wallfahrt erst in den 1370er Jahren. Wenig später erhielt die
Nikolauskapelle einen Umgangschor sowie verschiedene Ablässe. Die Kapelle war
unter anderem Ziel befreiter Gefangener, die hier ihre Gelübde einlösten.
Mittelalterliche Graffiti im Chor weisen auf die Besuche von Pilgern hin. Aufschlussreich
ist zudem die Menge von über 100 Pilgerzeichenfunden – besonders Abgüssen auf
Glocken -, die die noch heute in Nikolausburg aufbewahrte Heiligenfigur
abbilden. Mit dem in weiten Teilen erhaltenen Hochaltar bietet die Kapelle
zudem wichtige Anknüpfungspunkte zur Erforschung des Bildkonzepts solcher
Wallfahrtsorte.
Die hohe Dichte
von Pilgerzielen nördlich der Elbe präsentierte im Anschluss Enno Bünz (Leipzig) und zeigte, dass
der von Rothkrug Ende der 1970er Jahre erweckte Eindruck einer
‚Wallfahrtsfreien Zone‘ nicht stimmt. Neben zahlreichen Klöstern, die schon im
12./13. Jahrhundert gegründet wurden, gab es am Ende des Mittelalters weitere
Gnadenkapellen und Wallfahrtsstätten, für die, wie Bünz beklagt, jedoch keine verlässlichen
Untersuchungen oder Gesamtaufnahmen existieren. Nur wenige Orte sind dabei so
gut dokumentiert wie Ahrensbök, wo schon zu Beginn des 14. Jhds. ein
wundertätiges ‚imago‘ belegt ist. Die Mehrheit der Kapellen gibt Rätsel auf und
harrt einer intensiven Erforschung: So das Heilige Kreuz in Lütjenburg, die
Kirche des Heiligen Servatius in Selent, die Marienkapelle in Kirchnüchel oder
die Sankt Hulpe-Kapellen in Plön und Flensburg. „Es gibt noch viel zu tun!“
schloss Bünz.
Der erste Tag klang mit der Vorstellung des Stader Pilgerzeichenfundes durch Jörg Ansorge (Greifswald) und Hartmut Kühne (Berlin) aus, die von den TagungsbesucherInnen mit Spannung erwartet wurde. Die Begeisterung über den Fund war im Vortrag von Jörg Ansorge deutlich zu spüren: „Es handelt sich um den umfangreichsten Fund mittelalterlicher Pilgerzeichen an einer einzelnen Stelle in Deutschland überhaupt.“ Kühne und Ansorge versuchen die Pilgerzeichen zu ordnen und die bislang unbekannten Zeichen, regionalen Wallfahrtsorten im Norden zuzuweisen: Darunter finden sich 10 Pilgerzeichen mit einem als Sankt Hulpe definierten bekleideten und bekrönten Kruzifix, der möglicherweise in die Nähe von Stade gehört. Neben Wilsnack und seinen Transitstationen sowie dem niedersächsischen Hellweg, zu der die Hostienwunderkirche von Blomberg und die Abtei Königslutter gehörten, sind auch Zeichen der großen Pilgerziele aus dem Rhein-Maas Gebiet sowie den Oberrheinischen Wallfahrtsorten Thann und Einsiedeln Teil des Fundes. Eindringlich warb das Forscherduo um Hinweise für die Zuordnung einiger Zeichen, die noch nicht eindeutig einem Wallfahrtsort zugeschrieben werden konnten, wie ein Christophorus (evtl. Kloster Reinhausen?) oder ein Palmesel mit der Inschrift ‚Bremensis‘.
Die Vielfalt von tragbaren Zeichen im Spätmittelalter, ihre Semantik und kommunikative Funktion thematisierte der abendliche Festvortrag von Ann Marie Rasmussen (Waterloo, Kanada). Die komplexe Funktionalität von Zeichen ist im Englischen, so Rasmussen, schon durch die etymologische Differenzierung in Bildzeichen ‚signs‘, Tragezeichen ‚badges‘ und Wappenzeichen ‚devices‘ inhärent. Anstatt einer konkreten besäßen die Zeichen vielschichtige Bedeutungsebenen und fordern von den Rezipienten ‚multimediale Dekodierungsstrategien‘ ein, die Material, Motiv, Kontext, Träger und Betrachter des Zeichens miteinbeziehen. Dabei betonte Rasmussen die politischen Kontexte. Zeichen sind immer auch Objekte der Macht: Wer Macht hat, kann Zeichen verteilen, Symbole wählen und andere zum Tragen von Zeichen verpflichten. Anstoß für eine intensive Diskussion gab die Frage, ob die Zeichen zur Decodierung einladen, oder sich nur einem bestimmten Kreis von ‚Insidern‘ öffnen. Neben der Decodierungsfähigkeit der BetrachterInnen stieß die Diskussion auch Fragen zur Bild- und Formsprache sowie zur Diskrepanz zwischen dem schlichten materiellen und oft hohen ideellen Wertes der Tragezeichen. Noch offen bleibt zudem, ob die Methodik sich beliebig auf Kontexte übertragen lässt: Decken sich die Decodierungsstrategien religiöser Pilgerzeichen mit denen von Geheimbund- oder Bruderschaftszeichen?
Am Folgetag führte zunächst Hartmut Kühne die Vorstellung der Pilgerzeichen aus dem Stader Hafen fort, bevor sich das Tagungspublikum wieder einzelnen Heiligenkulten und Wallfahrtsstätten widmete. Zu Beginn stellten Henrike Lähnemann (Oxford), Elizabeth A. Andersen (Newcastle) und Mai-Britt Wiechmann (Oxford) ihre gemeinsame Forschung zur Heiligen Birgitta von Schweden vor. Selbst eine weit gereiste Pilgerin war Birgitta insbesondere im skandinavischen und norddeutschen Raum ein Vorbild für WallfahrerInnen. Auch ihre Bedeutung als Altar-, Kirchen- und Klosterpatronin verbreitete sich über die Hansewege. Ihre Erlebnisse und Offenbarungen (Revelationes) wurden 1492, ihre Vita 1496 in Lübeck gedruckt. Auffällig ist, dass die Lübecker Birgitten-Ikonografie sich markant von den sonst üblichen Darstellungskonventionen der Heiligen unterscheidet und sich zudem in den in einem weiten Raum von Danzig bis nach Amsterdam geborgenen Pilgerzeichen findet, die angeregt durch den Stader Fund inzwischen dem Birgittenkloster Marienwohlde bei Mölln zugewiesen wurden. Offenbar war das südlich von Lüneburg gelegene Kloster schon kurz nach seiner Gründung 1412 mit einem Ablass versehen worden und als Wallfahrtsort beliebt. Ähnlich wie bei der Kapelle in Hainholz ist der Wallfahrtsort als ‚Wald‘ im Zeichen präsent, dessen Rolle als ‚magischer‘ Ort von religiösen Offenbarungen zukünftig stärker in den Blick geraten sollte. Der ganze Vortrag kann unter folgendem Link als Podcast abgerufen werden: https://ox.cloud.panopto.eu/Panopto/Pages/Embed.aspx?id=3df082cb-d90e-41ca-a85b-aa26007b9b4b
Mit etwas Abstand
zur Vorstellung des Hülfensberges im Eichsfeld durch Thomas Müller folgte ein
zweiter Einblick von Andreas Röpcke
(Schwerin) in die Darstellung des bekleideten gekrönten Christus am Kreuz,
oder des Sankt Hulpe, der der Forschung derzeit noch viele Rätsel aufgibt. Denn
neben dem Monumentalkreuz Volto Santo
in Lucca, das nach einer Legende einem armen Spielmann einen goldenen Schuh
zuwarf und das auch der Eichsfelder Gehülfe zitiert, oder der vor allem in den
Niederlanden verehrten Heiligen Wilgefortis, die als ‚bärtige‘ Frau am Kreuz gemartert
wurde und deren Legende u. a. in Rostock ausführlich rezipiert wurde, gab es den
auch im Lübecker Passional erwähnten Märtyrer Hulpe, der zwar geköpft wurde,
jedoch von der Präsenz des Namens im norddeutschen Raum zeugt. Dies untermauern
auch Kapellenstiftungen wie in Nutlo bei Diepholz, in Plön und Flensburg,
Hulpe-Kruzifixe in Lübeck, in Beber bei Bad Münder und auf dem ‚Blankenburger
Altar‘, sowie Bruderschaften zur Hulpe in Stade und in Oldenburg. In der anschließenden
Diskussion wies Thomas Müller auf die auch am Hülfensberg präsente Ikonografie
des Sternenhimmels sowie der Schuhe hin, die ein Zeichen für die Lucca-Legende sind.
Nach Röpcke mischen sich diese Merkmale allerdings auch in Wilgefortis-Darstellungen
hinein (Rostock, St. Nikolai), was die Heterogenität der ‚Hulpe‘-Ikonografie verdeutlicht.
Zu hoffen bleibt, dass die Stader Hulpe-Pilgerzeichen, das bislang eher geringe
Interesse der Forschung an der rätselhaften Figur neu entflammen.
Der
anschließende Vortrag von Jörg Voigt
(Rom), der bereits das zweite Mal auf der Tagung sprach, führte zunächst
wieder weg von ikonografischen Fragestellungen hin zur für Wallfahrtsorte
zentralen Praxis der Sammelindulgenzen, die seit dem ausgehenden 13.
Jahrhundert an der Kurie in Rom und Avignon in großer Zahl ausgegeben wurden. Nach
einem kurzen Überblick zur Entwicklung der päpstlichen Kanzlei-Regeln ging
Voigt auf die für den Raum Stade und Lüneburg erhaltenen Quellen ein: So sind
diese Ablässe für das Kloster Zeven, das Kloster Heiligental, St. Marien in
Hamburg, das Kollegiatsstift in Bücken oder die Jodokuskapelle in Stintstedt
belegt. Neben den Pilgern, die an bestimmten Tagen Ablässe erhalten, wird der
Ablass auch immer für Spenden an Bau und Ausstattung gewährt. Im Bereich
solcher Indulgenzen gibt es noch viele ungehobene Schätze, wie Hartmut Kühne
einwarf: So habe er kürzlich für die Jodokuskapelle in Lamstedt eine kuriale Sammelindulgenz
aus dem Jahre 1300 entdeckt, die mit der Kapellengründung des benachbarten St.
Joost vor 1360 in Zusammenhang stehen könnte.
Weiteren
Forschungsbedarf mahnte auch Joachim
Stüben (Hamburg) an. Bereits die ältesten Quellen wie das Itinerar des Abt
Nikolaus, das Pilgerwege über den Ochsenweg von Haithabu über Itzehoe nach
Stade beschreibt, geben Einblicke in die Entwicklung der Wallfahrtsrouten und
der Sakraltopografie der Region. An zahlreichen Jakobuskirchen sowie
Bruderschaften und Reliquien des Jacobus Major zeigt sich die rege
Auseinandersetzung mit dem Pilgerdasein seit dem 13. Jh.. Wie seine Vorredner
fordert Stüben die Tagungsgäste auf, aktiv zu werden und sich in die
Quellenbestände von Gemeinden und kleineren Kirchen, sowie in Familienarchive
und -sammlungen zu begeben: In der Diskussion ergänzt wurden zudem Pilgergraffiti,
in denen Datierungen konkretisiert werden können.
Von den
Möglichkeiten akribischer Forschung zeugten die im Anschluss präsentierten
Ergebnisse von Renate Samariter
(Greifswald) und Christian Popp (Göttingen) zu einer Reihe früher Pilgerzeichen
– einer Kreuzigungsdarstellung sowie einer Marienfigur –, die gehäuft im
mitteldeutschen Raum auftreten, aber auch in Dordrecht und Rostock archäologisch
belegt sind: Möglicherweise stammen sie aus der Bischofsstadt Halberstadt, für
die 1208 die Einführung eines „Festum Adventus Reliquiarum“ belegt ist, das mit
feierlichen Reliquienweisungen begangen wurde und Gläubige in großer Zahl
anlockte. Durch ihre Systematisierung von Abgüssen auf Glocken und Tauffünten
stießen die WissenschaftlerInnen auf diese Pilgerstätte mit besonderer
Strahlkraft. Das ikonografische Motiv der Kreuzigung geht wohl auf die
monumentale Triumphkreuzgruppe zurück, die zumindest im 13. Jahrhundert so einzigartig
und spektakulär war, dass sie als ‚Zeichen‘ für den Dom in Halberstadt
fungieren konnte. Auch bezeugen die inzwischen in Petersburg wieder
zugänglichen liturgischen Quellen, dass der Kreuzaltar als Ort der
Reliquienfest-Liturgie diente. Das Marienbild hingegen verweist wahrscheinlich auf
die Halberstädter Liebfrauenkirche, da eine dort angebrachte Ablasstafel aus
dem späten 13. Jh. dieselbe Madonnenfigur zeigt. Kritisch zu hinterfragen
bleibt nach Jörg Richter (Klosterkammer Hannover) jedoch die Definition als
‚Pilgerzeichen‘, da sie sehr groß seien und keine Ösen besitzen.
Durch den krankheitsbedingten Ausfall von Jan Friedrich Richter, schloss die letzte Sektion mit einem Vortrag von Edgar Ring (Lüneburg), der die Perspektive noch einmal auf die archäologischen Funde und Befunde richtete. Er verglich in seinem Vortrag die Ergebnisse der Ausgrabungen von drei Wallfahrtskapellen. Bereits in den 1920er Jahren wurde die St. Joos-Kapelle bei Stinstedt ergraben, wobei nicht nur die auf Eichenpfählen ruhenden Grundmauern der einstigen Fachwerkkapelle, sondern auch zugehörige Wohn- und Wirtschaftshäuser entdeckt wurden. Ein Teil der damals geborgenen Kleinfunde, darunter auch das Pilgerzeichen der Kapelle, gingen am Ende des 2. Weltkrieges verloren. Fragmente eines sog. „Mönchsbechers“ blieben allerdings erhalten und werfen Fragen nach der möglichen Weiternutzung der Anlage bis zum Ende des 16. Jahrhunderts auf. Eine zweite Ausgrabung betrifft die Marienkapelle von Lenzen (übrigens auch durch ein Pilgerzeichen im Stader Fund vertreten), wo zu Beginn der 2000er Jahre ebenfalls Grundmauern der einstigen Wallfahrtskapelle und von Wirtschaftsgebäuden entdeckt wurden. Die dort gemachten Keramikfunde von Trinkbechern bestätigten die Devise: Wallfahrt macht durstig – also den Zusammenhang von Wallfahrten und erhöhtem Bierausschank. Die etwa gleichzeitig mit Lentzen bei Bad Münder untersuchte Annenkirche und deren acht in Form einer städtischen Häuserzeile gereihten Nebengebäude stellen die bislang umfangreichste Grabung im Bereich der Wallfahrtsarchäologie dar. Allerdings konnten bislang nur außerhalb von Städten gelegene Wallfahrtsanlagen untersucht werden.
Die Abschlussdiskussion zeigte, dass durch das Tagungsthema und die zahlreichen Beiträge ein großes Portfolio an neuen Erkenntnissen und Fragestellungen entstanden war. So richtete sich das Interesse der Gäste durch die starke Präsenz der für viele bisher unbekannten Pilgerzeichen noch einmal auf deren Materialität und auch ihre ‚Magie‘ sowie ihre Funktion, etwa als Glockenabgüsse. Mit einem eindringlichen Aufruf an die TagungsteilnehmerInnen und Interessierten, ihr Wissen und weitere Ergebnisse in das laufende Forschungsprojekt sowie in die für 2020 geplante Ausstellung einzubringen, schloss Hartmut Kühne die Tagung. Wenn es gelingt, die interdisziplinären Zugänge der Tagung und das beeindruckende Detailwissen dieses Forschungs-Netzwerkes dort zusammenzutragen, darf man auf die Schau und den angesprochenen Begleitband mehr als gespannt sein!
In den 1990er Jahren sollte nordöstlich von Bad Münder der „Deister-Park“ entstehen – inzwischen gilt das Projekt als Fehlplanung, an die man sich in der Stadt ungern erinnert. Einzig für die Wallfahrtsforschung brachte die Baustelle einen Erkenntnisfortschritt mit sich, denn auf dem geplanten Baugelände wurden durch eine Geländeprospektion die Grundmauern einer um 1500 entstandenen Wallfahrtskapelle entdeckt.
Auch wenn die Existenz der einstigen Annenkapelle wohlbekannt und ihr Abriss zur Gewinnung von Baumaterial im Jahre 1591 durch eine landesherrliche Anweisung dokumentiert war, löste die Ausgrabung der Anlage im Jahre 1999 doch eine kleine Sensation aus, war es doch seit Jahrzehnten die einzige Grabung in Niedersachsen, die einen ehemaligen Wallfahrtsort wieder zum Vorschein brachte. Eifrige Heimatforscher begleiteten das Geschehen vor Ort mit Enthusiasmus. Die Grabung brachte nicht nur die Grundmauern des Kapellenbaus zu Tage, sondern auch die einer Häuserzeile mit sechs Gebäuden, die dem Personal der Kirche zur Wohnung und den Besuchern als Schenke und möglicherweise auch als Herberge dienten.
Der außerordentlich dynamische Besuch dieses Wallfahrtsortes fand mit der Reformation freilich ein rasches Ende – und auch die von der Ausgrabung befeuerte Publikationswelle in den ersten Jahren des 21. Jahrtausends ist schon lange abgeebbt.
Aber nun gibt es Neues zu berichten: Wir kennen endlich jene Pilgerzeichen, die in der Annenkapelle verkauft wurden und können uns damit ein Bild von dem hier einst verehrten Gnadenbild machen. Auslöser dieser Entdeckung war ein 2013 in Hamburg-Harburg bei archäologischen Grabungen entdecktes Pilgerzeichen mit der Darstellung einer stehenden Anna Selbdritt.
Der Harburger Fund hat große Ähnlichkeit mit einem bereits vor einigen Jahrzehnten im niederländischen Nieuwlande entdeckten Zeichen, das man bisher als Insignie der Wallfahrt zu Sint Anna ter Muiden in Zeeland missdeutet hatte. Daher wurde das Harburger Stück auch mit dieser Identifikation publiziert. Eine Überprüfung der Inschrift im Rahmen unseres Projektes stellte aber klar, dass es sich um ein Zeichen der hl. Anna „vor de stat mundere“ handelt. Das Wappenschild mit dem stehenden Löwen erinnert an den ehemaligen Landesherren, die Fürsten von Lüneburg.
Die neue Identifikation des Zeichens ist eindeutig. Wird sie auch neue Einsichten zur Wallfahrtsgeschichte von Bad Münder anregen?
Auf der Suche nach bekannteren oder sogar bedeutsamen Wallfahrtsorten im Norden Schleswig Holsteins stößt man unweigerlich auf dieses Zitat zum Heiligen Kreuz von Lütjenburg. Es stammt von Johann Peter aus Burg auf Fehmarn, der in seinem 1439 verfassten Testament diese Auftragswallfahrt anordnete. Neben dem Heiligen Kreuz in Lütjenburg sollte man auch in das nahe Selent, zu St. Servatius ziehen, und an beiden Orten jeweils einen Schilling opfern.
Trotz dieser breit zitierten Quelle ist es bislang nicht
gelungen, dem vermeintlichen Pilgermagneten eines ‚Heiligen Kreuzes zu
Lütjenburg‘ schärfere Konturen zu verleihen. Seit Friedrich Witt um 1900 und
Fritz Seefeldt um die Mitte des 20. Jh. ihre wichtige Grundlagenforschung zur
Lütjenburger Kirchengeschichte leisteten, ist zudem hoch umstritten, was man
sich unter diesem ‚Heiligen Kreuz‘
vorzustellen habe, wo es aufbewahrt und wie es präsentiert wurde.
Eine Reise nach Lütjenburg, eine Inaugenscheinnahme eines spätmittelalterlichen Rechnungsbuches und ein Treffen mit dem Lokalforscher Walther Knoke im Februar 2019, dazu drei Leitfragen unter dem Arm, sollten daher etwas Licht ins Dunkel bringen.
Frage 1: Was genau war das ‚Heilige Kreuz‘?
Mit großer Wahrscheinlichkeit handelt es sich hier um einen
kleinen Splitter, der vermeintlich einst dem wahren, in Jerusalem geborgenen
Kreuz Christi, zugehörte und damit zu den kostbarsten Reliquien überhaupt
gehört. Allein die Präsenz eines solchen Splitters in der ländlichen Region um
Lütjenburg ist bemerkenswert und musste
die Reputation des Ortes befördert haben. Zur Herkunft der Reliquie ist zwar
nichts bekannt, für eine Verbreitung von Kreuzreliquien im nordelbischen Raum lässt
sich aber auf die Lübecker Bischöfe verweisen. So ist um 1300 eine
Kreuzreliquie in St Michael in Eutin fassbar, die Bischof Burchart von Serkem
von seiner Romreise mitgebracht hatte und die durch weitere Teilungen
Verbreitung gefunden haben könnte.
Gelegentlich wird auch der Verdacht geäußert, es handle sich
beim Heiligen Kreuz von Lütjenburg um einen Kruzifixus oder ein Großkreuz, das
in einer Kapelle ausgestellt von Pilgern verehrt wurde. Zwar ist ein Bildwerk
als Anziehungspunkt nicht auszuschließen. Voraussetzung für die Verehrung solcher
Bildwerke war aber auch hier immer die Präsenz eines authentischen materiellen
Splitters vom Kreuz Christi:
Die Eutiner Kreuzreliquie etwa schloss man im Brustkorb eines Kruzifix unter einem Bergkristall ein (Körber 1977, S. 181). Das von Bischof Albert Krummediek gestiftete Triumphkreuz im Lübecker Dom besaß eine Reliquie im Kopf der Christusfigur. Spannend war daher die Entdeckung eines solchen Reliquienfaches im Lütjenburger Triumphkreuz. Kaum merklich aus der Ferne ist eine kleine Öffnung in der Brust Christi zu sehen, die ehemals sicher eine Reliquie barg.
Frage 2: Das Kreuz in der Kirche?
Dafür, dass das Kreuz in einer eigenen Behausung oder Kapelle untergebracht war, spricht ein im Pfarrarchiv vor Ort erhaltenes Rechnungsbuch. Nach einer Notiz desselben wurden 1468 Arbeiten am „wellste tom hilgen Krutze“ (Gewölbe am Heiligen Kreuz) bezahlt.
Unklar ist hingegen bis heute, wo diese Kapelle stand.
Besonders an der Frage, ob das ‚Heilige Kreuz‘ in der Hauptkirche St Blasius
(heute unter dem nachreformatorischen Patrozinium St. Michael geführt) aufbewahrt
wurde, scheiden sich die Geister. Angebaute Kapellen sind hier zwar vorhanden,
ein Kreuzpatrozinium ist gleichwohl nicht belegt. In eine neue Richtung wies
daher die Historikerin Irmtraud Engling mit ihrer quellenkundlich gestützten
These, das ‚Heilige Kreuz‘ befand sich nicht in der Hauptkirche von Lütjenburg,
sondern in der Nähe eines Stadttores (Engling 2002).
Frage 3: Das Lütjenburger Heilige Kreuz als Pilgermagnet im 15. Jahrhundert?
Die Frage, welche Rolle Lütjenburg und seine Reliquie in den
Wallfahrtsbewegungen des späten Mittelalters wirklich spielten, lässt sich auch
nach dem Besuch nicht genau beantworten. Ein wirklicher ‚Pilgermagnet‘ war das
Heilige Kreuz aber vermutlich nicht. Denn in den gut erforschten Lübecker Testamenten
werden keine Reisen nach Lütjenburg
erwähnt, während das nahe Selent mit seiner Servatiuskirche in der Zeitspanne
von 1430 bis 1479 immerhin 5 Mal aufscheint (Dormeier 2012, S. 23).
Und dennoch: Das Lütjenburger Rechnungsbuch weist ab 1463
regelmäßig Einnahmen aus einem Opferstock “to dem hilgen Krutze“ aus und auch
die Erneuerung des Gewölbes über dem Kreuz zeigt, dass dieses Heiligtum Aufmerksamkeit fand – zumindest auf
lokaler Ebene.
Mit dieser Gewölberenovierung in Verbindung steht
möglicherweise auch die Erneuerung des Hochaltarretabels von St Blasius im Jahr
1467, dessen Mitteltafel die Kreuzigung darstellt.
Zwar lässt die Ikonografie des Retabels nur bedingt auf die
Kreuzverehrung in Lütjenburg schließen. So wird in den Innenflügeln eben nicht
die Passion, sondern das Marienleben erzählt. Gleichwohl weist die
Retabelstiftung in Lütjenburg auf ein besonderes Engagement der Stadtoberen und
des Lübecker Bischofs hin (ab 1466 Albert Krummediek) in dem Ort hin.
Es bestätigt sich damit der Eindruck, dass das Lütjenburger
Kreuz eher kein Publikumsmagnet zwischen Kiel und Lübeck war, wie die
Auftragswallfahrt aus dem Jahr 1439 suggeriert. Vielmehr scheint die Reliquie
vorrangig im näheren Umkreis Beachtung gefunden zu haben.
Einer intensiveren Erforschung harrt unbedingt die Triumphkreuzgruppe in Lütjenburg. Bot die hier eingelassene Mulde Platz für einen Teil des älteren Lütjenburger ‚Heiligen Kreuzes‘? Gab es weitere Verbindungen, etwa durch Messstiftungen, Prozessionsrouten und Ablässe, die zwischen St Blasius und der Kreuzkapelle hergestellt wurden? Und welches Interesse verfolgten die Lübecker Bischöfe in Lütjenburg?
In der
Altstadt Jerusalems, in einer Gasse gleich hinter dem Jaffator, findet man das
Tattoo-Studio Razzouk. Mag die Eigenwerbung mit einer siebenhundertjährigen
Firmengeschichte auch etwas übertrieben sein, so führt der heutige Inhaber Wassim
Razzouk zweifelsohne eine Tradition fort, die sich in Jerusalem seit dem 16.
Jahrhundert durch Quellen belegen lässt. In der zweiten Hälfte des 16.
Jahrhunderts berichteten westeuropäische Jerusalem-Pilger erstmals darüber,
dass sie sich als Zeichen ihrer Pilgerfahrt tätowieren ließen. Der erste
bekannte Fall war der kaiserliche Rat Alexander von Pappenheim, der Jerusalem
1563/1564 besuchte. Er ließ sich in Jaffa ein Kreuz auf den Oberschenkel
stechen. Ihm folgten besonders im 17. Jahrhundert viele andere Reisende, deren
Tätowierungen wir in einzelnen Fällen auch durch Abbildungen kennen. Einer von
ihnen war der Hamburger Ratge Stubbe, über dessen Reise mehr in der künftigen
Ausstellung in Lüneburg zu erfahren sein wird.
Europäische
Pilger waren freilich nicht die Einzigen, die sich dieser Form der
Körpermodifikation unterzogen. Vor allem armenische und koptische Christen
brachten häufig ein solches Zeichen von ihrem Besuch der Heiligen Stätten mit.
Auch die Vorfahren Wassim Razzouks kamen als Kopten im 18. Jahrhundert aus
Oberägypten nach Jerusalem. Der Großvater Jakob besaß in den 1950er Jahren noch
fast 200 aus Olivenholz gefertigte Stempel mit unterschiedlichen Motiven, die
zum Teil noch aus dem 18. Jahrhundert stammten. Mit deren Hilfe ließ sich das
zu tätowierende Motiv als Vorzeichnung rasch auf die Haut aufbringen. Denn das
Tätowieren war ein Saison- und Stoßgeschäft: Vor allem um das Osterfest kamen große
Pilgergruppen aus Ägypten, die sich während ihres Aufenthaltes in Jerusalem von
der Familie Razzouk tätowieren ließen. Diese Nachfrage brach freilich nach dem
Sechstagekrieg von 1967 ein, da Ägypter zunächst nicht mehr nach Israel reisen
konnten.
Umso erfreulicher ist es, dass diese Tradition nicht abbrach. Auch wenn Wassim Razzouk heute nur noch über einen Teil der historischen Holzstempel seines Großvaters verfügt und einige seiner Werkzeuge moderne Repliken nach den Abdrücken der Originale sind, so ist der kleine Laden doch von einer eigenen Atmosphäre geprägt, für die der Geschäftsslogan „Tattoo with heritage“ steht.
Inzwischen nimmt ein buntes und internationales Publikum die Dienstleistungen dieses Studios in Anspruch und Wassim Razzouk ist in der weltweiten Tattoo-Szene ein Begriff. Ihm ist für die Bereitschaft zu danken, uns vor Ort Auskunft zu seiner Arbeit und seiner Familie zu geben. Auch durften wir Filmaufnahmen machen, die ebenfalls in der Lüneburger Ausstellung zu sehen sein werden. Herrn Botschafter a.D. Dr. Mordechay Lewy, dem vorzüglichen Kenner und Wiederentdecker der Jerusalemer Pilgertätowierungen der frühen Neuzeit, danke ich für zahlreiche Anregungen und Auskünfte.
Bei den Grabungen im Stader Hansehafen wurden neben großen Mengen anderen Fundmaterials auch knapp 200 Pilgerzeichen und verwandte Weißmetallgüsse gefunden. Dieser bislang in Deutschland einzigartige Fundkomplex von Pilgerzeichen gab den Anstoß zu dem hier laufend kommentierten Forschungs- und Ausstellungsprojekt. Der enorme archäologische Ertrag verdankt sich besonders dem Engagement der in der AG Archäologie Stade tätigen Freiwilligen. Deshalb ist es erfreulich, dass an dieser Stelle zwei der beteiligten Personen auf diese Arbeit zurückblicken.
Hartmut Kühne
Im August 2013 erfolgten im historischen Hafenbecken Bauarbeiten zur Sanierung der sogenannten „Hudebrücke“ im Zentrum von Stade. Von den Baumaßnahmen hauptsächlich betroffen war ein Seitenarm des Flusslaufes Schwinge, der im 13. Jahrhundert zum festen Hafen umgebaut und später an dieser Stelle durch eine Steinbrücke überbaut wurde. Um die Brücke von unten überholen zu können, wurde das betroffene Hafenbecken durch Dämme abgeriegelt und trockengelegt.
Am 26. August 2013 wurden von der Stadtarchäologie baubegleitende Sondierungsgrabungen begonnen, um die in situ vorhandene Funde aus 800 Jahren Stadtgeschichte und deren Schichtenfolgen zur Zeitanalyse zu erhalten.
Offizielles Ende der Grabungen vor Ort und Beginn der eigentlichen Sanierungsmaßnahmen war der 7. Oktober 2013. Inzwischen waren viele historische Kleinfunde sowie eine komplette Sonnenuhr (in 2 Teile zerbrochen) aus dem 17 Jahrhundert gefunden worden. Da der Boden vor Ort ausgetauscht werden musste, wurde durch den Stadtarchäologen Dr. Schäfer beschlossen, den kompletten Erdaushub des Hafenbeckens bei den Kommunalen Betrieben Stade zwischen zu lagern.
Die AG Archäologie (Hobbyarchäologen aus dem ganzen Stader Umfeld) waren bereits bei den „offiziellen“ Grabungen vereinzelt behilflich gewesen und haben so die Stadtarchäologie unterstützt. Diese ehrenamtlichen Helfer setzen sich aus allen Berufsgruppen, aus Hausfrauen, Rentnern und Pensionären zusammen.
Man verabredete sich am 13. Oktober 2013, den Aushub an den folgenden Wochenenden auf weitere Fundstücke hin oberflächlich zu untersuchen. Die Fundmenge an Münzen, Spielzeug, Knöpfen, Schnallen, aber auch Bootsnägeln, Warenplomben, Militaria, Teilen von Taschenuhren, Gefäßscherben sowie vereinzelt auch Pilgerzeichen, die dabei zutage kam, war so überwältigend, dass die angedachte Entsorgung zur Verbrennung wegen Kontamination des Bodenaushubes schnell fallen gelassen wurde. Statt dessen wurde von einer ständig wechselnden Gruppe aus 10 – 30 Ehrenamtlichen fast jedes freie Wochenende, auch Feiertage, dazugenutzt, die Unmenge an Boden in Kleinarbeit im Freien zu schlämmen. Auch widrige Wetterverhältnisse konnte sie nicht davon abbringen. Bis Dezember war klar, dass die gesamte Aushubmenge von ca. 350 Kubikmeter nur in jahrelanger Arbeit zu bewältigen war.
Ende August 2016 war schließlich das letzte Gramm Bodenaushub durchsiebt und geschlämmt. Dies wurde durch die AG Archäologie mit einem großen, gemeinsamen Sommerfest gefeiert.
Das letzte Pilgerzeichen (aus Aachen), vielleicht das älteste hier in Stade gefundene, kam erst am allerletzten Tag wieder ans Tageslicht.
Will Helms
Die Besonderheit der Pilgerzeichen-Funde aus dem Stader Hafen
Es war ganz am Anfang unserer dreijährigen Schlämm-Aktion, als die ersten Pilgerzeichen aus Wilsnack im Sieb lagen. Zu dieser Zeit konnten nur wenige Mitglieder der Archäologie-AG auch nur mit dem Begriff etwas anfangen, geschweige denn, sie kennen bzw. erkennen. Aber einige Mitglieder wussten eben doch um die Besonderheit dieser Plaketten aus Blei-Zinn, welche die Pilger im 14. und 15.Jahrhundert auswiesen. Mit dem Finden und Erkennen eines jeden neuen Pilgerzeichens wuchs in der Gruppe die Freude und Aufmerksamkeit. An manchen Schlämmtagen, die im Dezember 2013 und im Januar 2014 im damaligen Technikmuseum bei Minusgraden stattfanden, bargen wir drei Pilgerzeichen und der Jubel war groß. Wir kamen auch an den Weihnachts- oder Osterfeiertagen zusammen und unsere Motivation wurde durch neue Funde belohnt.
Peter Wellbrock, unser ältestes Mitglied, ein ehemaliger Journalist mit vielen Kontakten, stellte die Verbindung zu den Pilgerzeichen-Experten Jörg Ansorge und Hartmut Kühne her. Spätestens mit deren großem Interesse und ihrem Besuch im Oktober 2014 war die Gruppe sich auch der überregionalen Aufmerksamkeit gewiss. Einige Mitglieder haben sich in dieses hochinteressante Thema eingearbeitet, zur Historie des Pilgerns geforscht und deshalb Klöster, Pilgerstätten sowie Museen im In- und Ausland besucht.
Unsere AG ist mit Funden reich „beschenkt“ worden. Jedes Mitglied hatte seine Lieblingsfundgruppe: Münzen, Uniformknöpfe, Tuch- und Warenplomben, Spielsachen etc. Aber ausnahmslos alle AG- Mitglieder freuen sich über die Bedeutung unserer geborgenen Pilgerzeichen.
Schon lange waren Pilgerzeichen-Abgüsse auf den Glocken in den Dorfkirchen von Wittenförden (1473), Domsühl und Russow (1435) bekannt. Sie mussten aus einem Wallfahrtsort stammen, an dem der hl. Antonius verehrt wurde, da sie auf dem Querbalken die – zumindest in Russow gut lesbare – Majuskelinschrift „S’ ANTHONIUS“ tragen. Auch sind auf dem Schaft des Zeichens übereinander drei Taukreuze angeordnet.
Archäologische Untersuchungen des Landesamtes für Kultur und Denkmalpflege Mecklenburg-Vorpommern (Landesarchäologie) bargen im Kloster Malchow (Mecklenburgische Seenplatte) einen Bodenfund. Auf seinem Querbalken ist nur der Anfang der Inschrift – „Sanct…“ – zu lesen. Auf dem Schaft erscheinen die drei Taukreuze. Ein weiterer Fund dieser Art liegt aus Danzig vor. Die Vermutung lag nahe, dass diese Zeichen aus der Antoniterniederlassung im mecklenburgischen Tempzin stammen könnten. Aber bisher fehlte dafür der Beweis.
Diesen erbrachten nun zwei archäologische Funde aus dem Stader Hafen. Sie lassen eine Inschrift in dünn eingeritzten Minuskeln erkennen, die lautet: „Sante T antonyo / to T dem T syn [Sankt Antonius zu Tempzin]“. Damit ist ihre Herkunft aus Tempzin sicher belegt.
Die 1222 in Tempzin, 20 km südöstlich von Wismar, gegründete Niederlassung des Antoniterordens blieb lange die einzige in Norddeutschland. Von hier ging die Gründung der Filialen in Mohrkirch (Morkaer) in Schleswig (1391) und Praestö (auf Seeland) in Dänemark (1470) sowie Frauenburg in Westpreußen (1514) aus.
Die Antoniterpräzeptorei von Tempzin, von Papst Bonifatius IX. 1399 und 1400 mit großen Ablässen ausgestattet, zog seit dem frühen 15. Jahrhundert Wallfahrer an. Neben weiteren bischöflichen Ablässen verhieß 1470 eine Bulle Papst Pauls II. den Besuchern des Ordenshauses einen fünfjährigen Ablass. Um 1500 erfuhr die Antoniterkirche unter dem Präzeptor Johannes Kran erhebliche Umbauten, an die eine Bauinschrift an der Südseite der Westfassade der Kirche erinnert und mit einem Wappen des Kran (Kranich) mit Taukreuz eingeleitet wird.
Nach testamentarischen Verfügungen aus Lübeck wurden seit 1415 Pilger nach „sunte Anthonius hove by der Wysmar“ (Antoniushof, Tönnieshof) entsandt. In Stralsund sind zwischen 1495 und 1501 vier Wallfahrten nach Antoniushof ausgeschrieben worden. Aus den umliegenden Hansestädten gab es zahlreiche testamentarisch verfügte Stiftungen an die Antonius-Bruderschaft in Tempzin, zumeist verbunden mit dem Wunsch, in das Gedächtnisbuch (denkeboek, ewighe doden bok) eingetragen und in das Seelgedächtnis aufgenommen zu werden. Aus der Stiftung des Wismarer Bürgers Johannes Schelp von 1411 sollen die Mittel für die Schaffung des heute im Staatlichen Museum Schwerin erhaltenen Passionsaltars der Tempziner Kirche stammen. Ein weiteres markantes Kunstwerk ist eine Antonius-Statue,die heute noch in der Kirche steht.
Die archäologischen Funde der Pilgerzeichen bestätigen nicht nur die aus den Testamenten und durch die Glockenabgüsse bekannte Attraktivität Tempzins als Wallfahrtsort in Mecklenburg, sie zeugen zugleich von einer weiten Bekanntheit im Nord- und Ostseeraum über Landes- und Diözesangrenzen hinaus.
Jörg Ansorge
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