Rettungen aus irdischen Notlagen, aus Krankheit, Gefangenschaft, Seestürmen oder Feuersbrünsten waren neben der Erwerbung von Ablässen als Ausgleich für die jenseitigen Fegefeuerstrafen die wichtigsten Motive, um im Spätmittelalter einen Wallfahrtsort aufzusuchen. Aufzeichnungen von solchen wunderbareren Rettungen gab es selbstverständlich auch an vielen norddeutschen Wallfahrtskirchen. Aber von diesen Mirakelbüchern hat sich keines erhalten. Nur in wenigen Fällen wissen wir immerhin noch, dass es diese Texte gab und kennen einzelne der darin bewahrten Erzählungen, so aus dem Kloster Marienwohlde, aus den Hildesheimer Michaelskloster oder aus der Wilsnacker Wallfahrtskirche. Auch darum ist eine Wunder-Handschrift für unsere Forschungen von besonderem Interesse: Das Mirakelbuch des Theobaldsmünsters in Thann (Département Haut-Rhin). Die Kirche des hl. Theobaldus im Elsass wurde seit der Mitte des 14. Jahrhunderts auch von zahlreichen Pilgern aus Norddeutschland aufgesucht, die den Besuch bei dem in Norddeutschland auch „Ewald“ genannten Heiligen häufig mit einer Reise nach Einsiedeln verbanden. Das mittelalterliche Mirakelbuch hatte der Colmarer Bibliothekar Johann Georg Stoffel (1819-1880) im Jahre 1875 herausgegeben, nachdem es kurz zuvor auf dem Speicher des Pfarrhauses in Heimsbrunn wiederentdeckt worden war. Die Pergamenthandschrift enthält 215 Wunderberichte aus der Zeit von 1405 bis 1521. Die darin genannten Personen kamen nicht nur aus dem Elsass und Lothringen, sondern es werden auch viele Pilger aus anderen Teilen des Reiches genannt, wobei Norddeutschland besonders stark vertreten ist: Schleswig und Holstein, die Städte Bremen, Stade, Hamburg, und Lübeck, sowie Mecklenburg und Pommern.
Das Mirakelbuch war in den ersten Jahrzehnten nach dem Erscheinen der Edition 1875 für zahlreiche regionalhistorische Studien zum Wallfahrtswesen in Norddeutschland benutzt und auch in den letzten Jahrzenten immer wieder einmal herangezogen worden. Mit der Handschrift scheint sich aber seit dem Herausgeber Stoffel niemand mehr befasst zu haben, so dass ihr Standort selbst in der einschlägigen deutschen Forschung zuletzt unbekannt war. So rückte die Frage nach dieser Handschrift gleich am Beginn unseres Projektes in den Blickpunkt. Der entscheidende Hinweis kam von Elisabeth Clementz, Dozentin am Institut für elsässische Landesgeschichte der Universität Straßburg, die im Oktober 2018 mitteilte, die Handschrift befinde sich als Dauerleihgabe der dortigen Pfarrkirche im Stadtarchiv Thann. Da eine Anfrage zur Ausleihe der Handschrift für die geplante Ausstellung leider abschlägig beschieden wurde, haben wir eine Digitalisierung der Handschrift vorgeschlagen, um sie leichter zugänglich zu machen. Auf diese Anregung hin wurde Handschrift dankenswerter Weise vom Departement-Archiv in Colmar gescannt und steht nun allen Interessierten auf den Seiten der Bibliothèque virtuelle des manuscrits médiévaux unter folgendem Link zur Verfügung: https://bvmm.irht.cnrs.fr/consult/consult.php?REPRODUCTION_ID=2322
Hartmut Kühne