Auf der Suche nach bekannteren oder sogar bedeutsamen Wallfahrtsorten im Norden Schleswig Holsteins stößt man unweigerlich auf dieses Zitat zum Heiligen Kreuz von Lütjenburg. Es stammt von Johann Peter aus Burg auf Fehmarn, der in seinem 1439 verfassten Testament diese Auftragswallfahrt anordnete. Neben dem Heiligen Kreuz in Lütjenburg sollte man auch in das nahe Selent, zu St. Servatius ziehen, und an beiden Orten jeweils einen Schilling opfern.
Trotz dieser breit zitierten Quelle ist es bislang nicht gelungen, dem vermeintlichen Pilgermagneten eines ‚Heiligen Kreuzes zu Lütjenburg‘ schärfere Konturen zu verleihen. Seit Friedrich Witt um 1900 und Fritz Seefeldt um die Mitte des 20. Jh. ihre wichtige Grundlagenforschung zur Lütjenburger Kirchengeschichte leisteten, ist zudem hoch umstritten, was man sich unter diesem ‚Heiligen Kreuz‘ vorzustellen habe, wo es aufbewahrt und wie es präsentiert wurde.
Eine Reise nach Lütjenburg, eine Inaugenscheinnahme eines spätmittelalterlichen Rechnungsbuches und ein Treffen mit dem Lokalforscher Walther Knoke im Februar 2019, dazu drei Leitfragen unter dem Arm, sollten daher etwas Licht ins Dunkel bringen.
Frage 1: Was genau war das ‚Heilige Kreuz‘?
Mit großer Wahrscheinlichkeit handelt es sich hier um einen kleinen Splitter, der vermeintlich einst dem wahren, in Jerusalem geborgenen Kreuz Christi, zugehörte und damit zu den kostbarsten Reliquien überhaupt gehört. Allein die Präsenz eines solchen Splitters in der ländlichen Region um Lütjenburg ist bemerkenswert und musste die Reputation des Ortes befördert haben. Zur Herkunft der Reliquie ist zwar nichts bekannt, für eine Verbreitung von Kreuzreliquien im nordelbischen Raum lässt sich aber auf die Lübecker Bischöfe verweisen. So ist um 1300 eine Kreuzreliquie in St Michael in Eutin fassbar, die Bischof Burchart von Serkem von seiner Romreise mitgebracht hatte und die durch weitere Teilungen Verbreitung gefunden haben könnte.
Gelegentlich wird auch der Verdacht geäußert, es handle sich beim Heiligen Kreuz von Lütjenburg um einen Kruzifixus oder ein Großkreuz, das in einer Kapelle ausgestellt von Pilgern verehrt wurde. Zwar ist ein Bildwerk als Anziehungspunkt nicht auszuschließen. Voraussetzung für die Verehrung solcher Bildwerke war aber auch hier immer die Präsenz eines authentischen materiellen Splitters vom Kreuz Christi:
Die Eutiner Kreuzreliquie etwa schloss man im Brustkorb eines Kruzifix unter einem Bergkristall ein (Körber 1977, S. 181). Das von Bischof Albert Krummediek gestiftete Triumphkreuz im Lübecker Dom besaß eine Reliquie im Kopf der Christusfigur. Spannend war daher die Entdeckung eines solchen Reliquienfaches im Lütjenburger Triumphkreuz. Kaum merklich aus der Ferne ist eine kleine Öffnung in der Brust Christi zu sehen, die ehemals sicher eine Reliquie barg.
Frage 2: Das Kreuz in der Kirche?
Dafür, dass das Kreuz in einer eigenen Behausung oder Kapelle untergebracht war, spricht ein im Pfarrarchiv vor Ort erhaltenes Rechnungsbuch. Nach einer Notiz desselben wurden 1468 Arbeiten am „wellste tom hilgen Krutze“ (Gewölbe am Heiligen Kreuz) bezahlt.
Unklar ist hingegen bis heute, wo diese Kapelle stand. Besonders an der Frage, ob das ‚Heilige Kreuz‘ in der Hauptkirche St Blasius (heute unter dem nachreformatorischen Patrozinium St. Michael geführt) aufbewahrt wurde, scheiden sich die Geister. Angebaute Kapellen sind hier zwar vorhanden, ein Kreuzpatrozinium ist gleichwohl nicht belegt. In eine neue Richtung wies daher die Historikerin Irmtraud Engling mit ihrer quellenkundlich gestützten These, das ‚Heilige Kreuz‘ befand sich nicht in der Hauptkirche von Lütjenburg, sondern in der Nähe eines Stadttores (Engling 2002).
Frage 3: Das Lütjenburger Heilige Kreuz als Pilgermagnet im 15. Jahrhundert?
Die Frage, welche Rolle Lütjenburg und seine Reliquie in den Wallfahrtsbewegungen des späten Mittelalters wirklich spielten, lässt sich auch nach dem Besuch nicht genau beantworten. Ein wirklicher ‚Pilgermagnet‘ war das Heilige Kreuz aber vermutlich nicht. Denn in den gut erforschten Lübecker Testamenten werden keine Reisen nach Lütjenburg erwähnt, während das nahe Selent mit seiner Servatiuskirche in der Zeitspanne von 1430 bis 1479 immerhin 5 Mal aufscheint (Dormeier 2012, S. 23).
Und dennoch: Das Lütjenburger Rechnungsbuch weist ab 1463 regelmäßig Einnahmen aus einem Opferstock “to dem hilgen Krutze“ aus und auch die Erneuerung des Gewölbes über dem Kreuz zeigt, dass dieses Heiligtum Aufmerksamkeit fand – zumindest auf lokaler Ebene.
Mit dieser Gewölberenovierung in Verbindung steht möglicherweise auch die Erneuerung des Hochaltarretabels von St Blasius im Jahr 1467, dessen Mitteltafel die Kreuzigung darstellt.
Zwar lässt die Ikonografie des Retabels nur bedingt auf die Kreuzverehrung in Lütjenburg schließen. So wird in den Innenflügeln eben nicht die Passion, sondern das Marienleben erzählt. Gleichwohl weist die Retabelstiftung in Lütjenburg auf ein besonderes Engagement der Stadtoberen und des Lübecker Bischofs hin (ab 1466 Albert Krummediek) in dem Ort hin.
Es bestätigt sich damit der Eindruck, dass das Lütjenburger Kreuz eher kein Publikumsmagnet zwischen Kiel und Lübeck war, wie die Auftragswallfahrt aus dem Jahr 1439 suggeriert. Vielmehr scheint die Reliquie vorrangig im näheren Umkreis Beachtung gefunden zu haben.
Einer intensiveren Erforschung harrt unbedingt die Triumphkreuzgruppe in Lütjenburg. Bot die hier eingelassene Mulde Platz für einen Teil des älteren Lütjenburger ‚Heiligen Kreuzes‘? Gab es weitere Verbindungen, etwa durch Messstiftungen, Prozessionsrouten und Ablässe, die zwischen St Blasius und der Kreuzkapelle hergestellt wurden? Und welches Interesse verfolgten die Lübecker Bischöfe in Lütjenburg?
Nadine Mai