Tagungsbericht Pilgerspuren. Orte – Wege – Zeichen

Die Tagung zu Pilgerfahrten und Wallfahrtskirchen zwischen Weser und Elbe, die vom 3.-5. April 2019 in Lüneburg stattfand, bot erste Perspektiven aus dem inzwischen ein Dreivierteljahr laufenden Forschungsprojekt, über das hier fortlaufend berichtet wird. Deshalb soll an dieser Stelle über die Veranstaltung berichtet werden.

Das rege Interesse an der Thematik der Pilgerfahrten und Wallfahrtskirchen im deutschen Norden zeigte sich bereits bei der festlichen Eröffnung im Fürstensaal des Lüneburger Rathauses, zu der zahlreiche Gäste und Interessierte erschienen. Auch in den Grußworten derFörderInnen und InstitutionsverteterInnen Eduard Kolle, Bürgermeister, der Museumsdirektoren Heike Düselder (Lüneburg) und Sebastian Möllers (Stade) sowie Andreas Hesse von der Klosterkammer Hannover und Tabea Golgath von der Stiftung Niedersachsen war die Spannung und Freude über das Unterfangen zu spüren.

Von der Bedeutung des Projekts für die Mediävistik musste man schon nach dem ersten Vortrag überzeugt sein. Hier präsentierte Hartmut Kühne, der wissenschaftliche Leiter des Projekts, einen Forschungsüberblick zum mittelalterlichen Wallfahrtswesen in Niedersachsen und schloss mit einem ernüchternden Fazit. So beklagt Kühne in Bezug auf die religiöse mittelalterliche Kultur im norddeutschen Raum ein großes Forschungsdesiderat sowie große Verluste von Architektur und Kunstgut sowie Quellen und Wissen zur Heiligenverehrung insgesamt. Das alles sollte dennoch nicht über das reiche mittelalterliche Wallfahrtswesen in dieser Region hinwegtäuschen, welches durch die Stader Funde eindrucksvoll belegt wird. Sie konterkarieren auch die „weißen Landstriche“ auf der 1979 von Lionel Rothkrug (Popular Religion and Holy Shrines. Their Influence on the Origins of the German Reformation and Their Role in German Cultural Development, in: Religion and the People 800-1700, hg. von James Obelkevich, Chapel Hill 1979, S. 20-86) veröffentlichten Übersichtskarte mittelalterlicher Wallfahrtsorte in Deutschland und zeigen, dass eine Revision der mittelalterlichen Wallfahrtsgeografie von der Weser bis in die Elbregionen dringend geboten ist.

Neben den ehemaligen Wallfahrtskirchen und -kapellen nimmt das Projekt, wie Kühne betont, norddeutsche Reisende auf den Wegen zu den großen Pilgerkirchen im römisch-deutschen Reich sowie nach Santiago de Compostela, Rom und Jerusalem in den Blick. Der Strahlkraft dieser Heiligen Stätten widmete sich auch der abendliche Festvortrag des israelischen Diplomaten und Historikers Mordechay Lewy (Bonn) zur „Wahrnehmung des Stadtbildes von Jerusalem im Spätmittelalter“. Mit dem Kunstbegriff der ‚Kartogenealogie‘ umriss Levy, wie Pilgernde nach Jerusalem spezifische Merkmale und Jerusalembilder in die Heimat transportierten, sie hier an die eigenen Erwartungen und Stadtbilder anglichen und durch Kunststiftungen in „ein ständiges Dejà vu“ Jerusalems übersetzten. Am Beispiel der Nürnberger Familie Ketzel ging Levy auch auf die kommunikativen und repräsentativen Aspekte der Pilgerfahrten ein, die das soziale Image der Nürnberger Familie Ketzel aufwerteten. Eingehend erörterte Levy den Kontext der Gothaer Pilgertafel (um 1500, Gotha, Schloss Friedensstein), die vermutlich von einem ursprünglich der familiären Memoria gewidmeten Bildwerk durch Übermalung in eines der Erinnerung an die Heilig-Land-Pilgerfahrt Kurfürst Friedrichs des Weisen von Sachsen verwandelt wurde.

Auf dem Empfang des Lüneburger Oberbürgermeisters am Abend des 3. April 2019

Die erste Sektion am Folgetag eröffnete Klaus Herbers (Erlangen), der sich seinem wissenschaftlichen Lebensthema, den Pilgerfahrten zum Grab des Heiligen Jacobus Major in Santiago de Compostela aus einer typisch ‚norddeutschen‘ Perspektive widmete: Tatsächlich ist die Überfahrt der Pilger mit dem Schiff ebenso ein Akt der Imitatio und dem Pilger angemessen, bedenkt man wie wichtig Wasser, Seefahrt und Meereswunder in der Jacobuslegende sind. So reiste Jacobus‘ toter Körper mit einem Schiff übers Meer von Jerusalem nach Galizien. Sein wundersames Erscheinen rettete später vor der Küste Seeleute, Ritter und Pilger vor dem Ertrinken, wie Herbers anhand der Mirakel des Liber Sancti Jacobi zeigte. Dass nicht nur der „tote Jacobus mit Schiffsreisen vertraut war“, sondern ebenso die Gläubigen, die eine Wallfahrt nach Santiago häufig per Schiff antraten, müsse die Forschung stärker berücksichtigen, so Herbers. Von der Struktur der Wege, dem wirtschaftlichem Aufwand und Nutzen, die eine teure Seereise bedeuteten, bietet das Meer noch viele Ansatzpunkte, um über die Jacobusverehrung nachzudenken. 

Im folgenden Vortrag breitete Heinrich Dormeier (Kiel) die vielfältige Wallfahrtskultur der Lübecker BürgerInnen im späten Mittelalter aus. Anhand der reich überlieferten Lübecker Testamente, die Dormeier umfassend ausgewertet hat, aber auch in erhaltenen Kulturgütern und Stiftungsdokumenten zeigt sich das dichte Raster von ‚Pilgerspuren‘ im Norden von der Mitte des 14. bis zum ausgehenden 16. Jahrhundert und sogar darüber hinaus. Zahlreiche neue und bekannte Quellen sowie gebaute, gemalte und gedruckte Zeugnisse sprechen, so Dormeier, für eine höchst lebendige Lübecker Wallfahrtskultur. Einen besonderen Blick lohne hier etwa die Verbreitung des Rochus-Kultes, eines der Pilgerheiligen, die bislang nur wenig Aufmerksamkeit erlangt haben, aber auch der Lübecker Kreuzweg, der Jerusalem sogar im genauen ‚Maßstab‘ vergegenwärtigt haben soll. Das Zusammenspiel der Suche nach täglicher Gnade und der Sehnsucht nach der authentischen Heilserfahrung einer Pilgerfahrt zeigt sich hier mehr als deutlich.

Mit dem Vortrag von Carsten Jahnke (Kopenhagen) wurde die spannungsreiche, aber eher selten in den Blick genommene Pilgerfahrt aus Dänemark, Norwegen und Schweden an die Heiligen Stätten thematisiert. Jahnke machte deutlich, wie Pilgerrouten aus dem hohen Norden sich in Richtung Süden (über die Elbe, Mitteldeutschland und die Alpen) oder aber in Richtung Osten (über Polen und Konstantinopel) entwickelten und welchen natürlichen sowie politischen Zwängen sie dabei unterworfen waren. Gleichzeitig veranschaulichte er die Bedeutung dieser Pilgerziele für die Mythenrezeption in Dänemark, denkt man etwa an Harald den Harten, der beim Wiederaufbau der Grabeskirche in Jerusalem 1037 eine tragende Rolle gespielt haben soll. Auch Reisen nach Santiago de Compostela sind früh bezeugt. Und schließlich berichten Viten regionaler Heiliger aus Dänemark – womöglich in Bezug auf die Jacobusvita – von einer Anschwemmung des Körpers. Weitere fruchtbare Bezüge offenbarte die anschließende Diskussion: Von der raschen Ausbreitung der Birgittenverehrung in Norddeutschland (Mai-Britt Wiechmann) bis hin zu einem Verweis auf Margarethe von Dänemarks Engagement in Meißen (Enno Bünz) oder den grenzübergreifenden Stiftungen der Herren zu Rantzau (Arend Mindermann).

Die folgende Sektion widmete sich einzelnen Pilgern, Wallfahrten und Quellen aus Lüneburg und Stade. So stellte Arend Mindermann (Stade) die in der bis 1256 reichenden Annales Stadenses beschriebene Romreisedes Albert von Stade (vor 1187-1264) vor. Der Abt des Stader Marienklosters, der für eine Reform nach dem Vorbild der Zisterzienser eintrat, war vermutlich schon im Sommer 1235 nach Rom gereist, um sich die neue Regel bestätigen zu lassen. Mindermann zeigte am Beispiel Alberts nicht nur die politischen Dimensionen des Wallfahrens auf, sondern auch die Auseinandersetzung mit bestimmten Streckenverläufen. So scheint es Albert mit seinem ‚Umweg‘ über Frankreich vor allem auf die Keimzellen des Zisterzienserordens abgesehen zu haben, deren Regel er auch in Stade übernehmen wollte. Dass der Abt als einzigen Wallfahrtsimpuls eine Johannisreliquie erwähnt, ist möglicherweise ebenfalls einem individuellen Interesse an dem Heiligen, der in Stade sehr verehrt wurde, geschuldet.

Für die meist durch Suppliken motivierten Reisen von Klerikern nach Rom bot Jörg Voigt (Rom) zahlreiche weitere Beispiele, vor allem aus der Hansestadt Lüneburg im 14./15. Jh. an. So der Lüneburger Bürgermeister Albert van der Molen, der im Zusammenhang des Lüneburger Prälatenkrieges vom Stadtrat 1453 nach Rom entsandt wurde, um in einem Rechtstreit zugunsten der Stadt an der Kurie zu intervenieren.. Über den Brenner und die Stadt Padua gelangte van der Molen nach Rom, wo seine Mühen trotz der Unterstützung durch den Kurialen Hermann Düker (zugleich Propst auch zu Bremen und Pfarrer zu Lunden in Dithmarschen) ebensowenig zum Erfolg führten, wie die  evtl. als Bestechungsgeschenk gekaufte „köstliche Bottel“. Allein die Gelegenheit, die sieben Pilgerkirchen Roms zu besuchen, verschafften dem Lüneburger Genugtuung. Erfolgreicher agierte an der Kurie der Probst des Klosters Lüne, Nikolaus Graurock, dessen Romreisen Voigt ebenfalls behandelte.

Die materiellen Zeugnisse solcher Romreisen und weiterer Pilgerfahrten in Lüneburg versuchte im Anschluss Ulfert Tschirner (Lüneburg) zu konkretisieren. In den Sammlungen der Lüneburger Museen und Kirchen befinden sich zwar nur noch wenige einschlägige Stücke. Dafür geben spätere Quellen wie das Reisebuch des Zacharias Konrad von Uffenbach (1756) einen Einblick in die ehemals vorhandene reiche Materialüberlieferung Lüneburgs, etwa mit dem ‚Pilgermuseum des Herrn Schröder‘, der Naturaliensammlung des Bürgermeisters Tobias Reymers, das zahlreiche Objekte aus dem Heiligen Land enthielt, oder dem Wunderkabinett des Hartwig von Dassel. Im heutigen Bestand sind die Funde allerdings schmal, so Tschirner. Allein einige römische Agnus Dei-Scheiben mit Schaukapseln und ein kostbarer Rosenkranz aus Gagat, der auf Santiago de Compostela verweist, sind erhalten. Diese und weitere Objekte sollen in der späteren Ausstellung erschlossen werden.


Die Veranstalter und die (meisten) der Vortragenden der Tagung auf dem Hof des Lüneburger Museums

Mit dem „Wunder an der Werra“, das Thomas Müller (Mühlhausen) beschrieb, ging die Tagung schließlich auf die regionalen Wallfahrfahrtsorte zu. Der thüringische ‚Hülfensberg‘ im Eichsfeld nahe des Klosters Anrode ist nach Müller einer der wichtigsten ‚Transitwallfahrtsorte‘ des mitteldeutschen Raumes: In zahlreichen Lübecker Testamenten werden Legate für eine Wallfahrt zum ‚Salvator‘ oder ‚Gehülfen‘ erteilt. Ziel der Pilger war das Kruzifix, dessen monumentale romanische Christusfigur offenbar schon im 13. Jh. bekleidet und als wundertätig verehrt wurde. Zeugnis für seine Verehrung geben Pilgerzeichen, aber auch Kopien des ‚Gehülfen‘ (Bamberg, Bremen) nachweisbar sind sowie zahlreiche Kapellen und Kirchen ‚ad Sunte Hulpe‘. Weiteren Forschungsbedarf zeigte die Diskussion zur Überschneidung der Gehülfenverehrung mit dem Kult des Volto Santo in Lucca und einem Märtyrer Hulpe im Raum Oldenburg und Plön, die ein weiterer Vortrag von Andreas Röpcke (Schwerin) bearbeitet.

Die Reihe der mirakulösen Wallfahrtsorte, die vor allem regionale Bedeutung besaßen, führte Irmgard Haas (Hannover) mit ihren sehr kundigen Beobachtungen und Recherchen zum wundertätigen Marienbild in Hainholz vor Hannover fort. Aus dem 15. Jahrhundert stammt das zugehörige Pilgerzeichen, das eine stehende Maria mit Kind zwischen zwei Eichenbäumen zeigt. Einerseits Regionalwallfahrtsort, belegen andererseits Lübecker Testamente und Pilgerzeichenfunde, die bis nach Dänemark reichen, den weiten Einzugsbereich der Kapelle am ‚Heynholte‘. Für die Forschung dürfte auch das von 1434-1443 geführte Registrum (Rechnungsbuch) im Stadtarchiv Hannover von Interesse sein.

Eingehend und mit großer Detailkenntnis der Quellen stellte Wolfgang Petke (Göttingen) die ‚Wallfahrt nach Nikolausberg‘ beim Kloster Wende vor, deren angebliche Bestätigung durch Papst Alexander III im Jahre 1162 sich einer späteren notariellen Fälschung verdankt; tatsächlich begann die Wallfahrt erst in den 1370er Jahren. Wenig später erhielt die Nikolauskapelle einen Umgangschor sowie verschiedene Ablässe. Die Kapelle war unter anderem Ziel befreiter Gefangener, die hier ihre Gelübde einlösten. Mittelalterliche Graffiti im Chor weisen auf die Besuche von Pilgern hin. Aufschlussreich ist zudem die Menge von über 100 Pilgerzeichenfunden – besonders Abgüssen auf Glocken -, die die noch heute in Nikolausburg aufbewahrte Heiligenfigur abbilden. Mit dem in weiten Teilen erhaltenen Hochaltar bietet die Kapelle zudem wichtige Anknüpfungspunkte zur Erforschung des Bildkonzepts solcher Wallfahrtsorte.

Die hohe Dichte von Pilgerzielen nördlich der Elbe präsentierte im Anschluss Enno Bünz (Leipzig) und zeigte, dass der von Rothkrug Ende der 1970er Jahre erweckte Eindruck einer ‚Wallfahrtsfreien Zone‘ nicht stimmt. Neben zahlreichen Klöstern, die schon im 12./13. Jahrhundert gegründet wurden, gab es am Ende des Mittelalters weitere Gnadenkapellen und Wallfahrtsstätten, für die, wie Bünz beklagt, jedoch keine verlässlichen Untersuchungen oder Gesamtaufnahmen existieren. Nur wenige Orte sind dabei so gut dokumentiert wie Ahrensbök, wo schon zu Beginn des 14. Jhds. ein wundertätiges ‚imago‘ belegt ist. Die Mehrheit der Kapellen gibt Rätsel auf und harrt einer intensiven Erforschung: So das Heilige Kreuz in Lütjenburg, die Kirche des Heiligen Servatius in Selent, die Marienkapelle in Kirchnüchel oder die Sankt Hulpe-Kapellen in Plön und Flensburg. „Es gibt noch viel zu tun!“ schloss Bünz.

Der erste Tag klang mit der Vorstellung des Stader Pilgerzeichenfundes durch Jörg Ansorge (Greifswald) und Hartmut Kühne (Berlin) aus, die von den TagungsbesucherInnen mit Spannung erwartet wurde. Die Begeisterung über den Fund war im Vortrag von Jörg Ansorge deutlich zu spüren: „Es handelt sich um den umfangreichsten Fund mittelalterlicher Pilgerzeichen an einer einzelnen Stelle in Deutschland überhaupt.“ Kühne und Ansorge versuchen die Pilgerzeichen zu ordnen und die bislang unbekannten Zeichen, regionalen Wallfahrtsorten im Norden zuzuweisen: Darunter finden sich 10 Pilgerzeichen mit einem als Sankt Hulpe definierten bekleideten und bekrönten Kruzifix, der möglicherweise in die Nähe von Stade gehört. Neben Wilsnack und seinen Transitstationen sowie dem niedersächsischen Hellweg, zu der die Hostienwunderkirche von Blomberg und die Abtei Königslutter gehörten, sind auch Zeichen der großen Pilgerziele aus dem Rhein-Maas Gebiet sowie den Oberrheinischen Wallfahrtsorten Thann und Einsiedeln Teil des Fundes. Eindringlich warb das Forscherduo um Hinweise für die Zuordnung einiger Zeichen, die noch nicht eindeutig einem Wallfahrtsort zugeschrieben werden konnten, wie ein Christophorus (evtl. Kloster Reinhausen?) oder ein Palmesel mit der Inschrift ‚Bremensis‘.

Gemeinsames Abendessen im Lüneburger Museum am 4. April 2019

Die Vielfalt von tragbaren Zeichen im Spätmittelalter, ihre Semantik und kommunikative Funktion thematisierte der abendliche Festvortrag von Ann Marie Rasmussen (Waterloo, Kanada). Die komplexe Funktionalität von Zeichen ist im Englischen, so Rasmussen, schon durch die etymologische Differenzierung in Bildzeichen ‚signs‘, Tragezeichen ‚badges‘ und Wappenzeichen ‚devices‘ inhärent. Anstatt einer konkreten besäßen die Zeichen vielschichtige Bedeutungsebenen und fordern von den Rezipienten ‚multimediale Dekodierungsstrategien‘ ein, die Material, Motiv, Kontext, Träger und Betrachter des Zeichens miteinbeziehen. Dabei betonte Rasmussen die politischen Kontexte. Zeichen sind immer auch Objekte der Macht: Wer Macht hat, kann Zeichen verteilen, Symbole wählen und andere zum Tragen von Zeichen verpflichten. Anstoß für eine intensive Diskussion gab  die Frage, ob die Zeichen zur Decodierung einladen, oder sich nur einem bestimmten Kreis von ‚Insidern‘ öffnen. Neben der Decodierungsfähigkeit der BetrachterInnen stieß die Diskussion auch Fragen zur Bild- und Formsprache sowie zur Diskrepanz zwischen dem schlichten materiellen und oft hohen ideellen Wertes der Tragezeichen. Noch offen bleibt zudem, ob die Methodik sich beliebig auf Kontexte übertragen lässt: Decken sich die Decodierungsstrategien religiöser Pilgerzeichen mit denen von Geheimbund- oder Bruderschaftszeichen?

Am Folgetag führte zunächst Hartmut Kühne die Vorstellung der Pilgerzeichen aus dem Stader Hafen fort, bevor sich das Tagungspublikum wieder einzelnen Heiligenkulten und Wallfahrtsstätten widmete. Zu Beginn stellten Henrike Lähnemann (Oxford), Elizabeth A. Andersen (Newcastle) und Mai-Britt Wiechmann (Oxford) ihre gemeinsame Forschung zur Heiligen Birgitta von Schweden vor. Selbst eine weit gereiste Pilgerin war Birgitta insbesondere im skandinavischen und norddeutschen Raum ein Vorbild für WallfahrerInnen. Auch ihre Bedeutung als Altar-, Kirchen- und Klosterpatronin verbreitete sich über die Hansewege. Ihre Erlebnisse und Offenbarungen (Revelationes) wurden 1492, ihre Vita 1496 in Lübeck gedruckt. Auffällig ist, dass die Lübecker Birgitten-Ikonografie sich markant von den sonst üblichen Darstellungskonventionen der Heiligen unterscheidet und sich zudem in den in einem weiten Raum von Danzig bis nach Amsterdam geborgenen Pilgerzeichen findet, die angeregt durch den Stader Fund inzwischen dem Birgittenkloster Marienwohlde bei Mölln zugewiesen wurden. Offenbar war das südlich von Lüneburg gelegene Kloster schon kurz nach seiner Gründung 1412 mit einem Ablass versehen worden und als Wallfahrtsort beliebt. Ähnlich wie bei der Kapelle in Hainholz ist der Wallfahrtsort als ‚Wald‘ im Zeichen präsent, dessen Rolle als ‚magischer‘ Ort von religiösen Offenbarungen zukünftig stärker in den Blick geraten sollte. Der ganze Vortrag kann unter folgendem Link als Podcast abgerufen werden: https://ox.cloud.panopto.eu/Panopto/Pages/Embed.aspx?id=3df082cb-d90e-41ca-a85b-aa26007b9b4b

Mit etwas Abstand zur Vorstellung des Hülfensberges im Eichsfeld durch Thomas Müller folgte ein zweiter Einblick von Andreas Röpcke (Schwerin) in die Darstellung des bekleideten gekrönten Christus am Kreuz, oder des Sankt Hulpe, der der Forschung derzeit noch viele Rätsel aufgibt. Denn neben dem Monumentalkreuz Volto Santo in Lucca, das nach einer Legende einem armen Spielmann einen goldenen Schuh zuwarf und das auch der Eichsfelder Gehülfe zitiert, oder der vor allem in den Niederlanden verehrten Heiligen Wilgefortis, die als ‚bärtige‘ Frau am Kreuz gemartert wurde und deren Legende u. a. in Rostock ausführlich rezipiert wurde, gab es den auch im Lübecker Passional erwähnten Märtyrer Hulpe, der zwar geköpft wurde, jedoch von der Präsenz des Namens im norddeutschen Raum zeugt. Dies untermauern auch Kapellenstiftungen wie in Nutlo bei Diepholz, in Plön und Flensburg, Hulpe-Kruzifixe in Lübeck, in Beber bei Bad Münder und auf dem ‚Blankenburger Altar‘, sowie Bruderschaften zur Hulpe in Stade und in Oldenburg. In der anschließenden Diskussion wies Thomas Müller auf die auch am Hülfensberg präsente Ikonografie des Sternenhimmels sowie der Schuhe hin, die ein Zeichen für die Lucca-Legende sind. Nach Röpcke mischen sich diese Merkmale allerdings auch in Wilgefortis-Darstellungen hinein (Rostock, St. Nikolai), was die Heterogenität der ‚Hulpe‘-Ikonografie verdeutlicht. Zu hoffen bleibt, dass die Stader Hulpe-Pilgerzeichen, das bislang eher geringe Interesse der Forschung an der rätselhaften Figur neu entflammen.

Der anschließende Vortrag von Jörg Voigt (Rom), der bereits das zweite Mal auf der Tagung sprach, führte zunächst wieder weg von ikonografischen Fragestellungen hin zur für Wallfahrtsorte zentralen Praxis der Sammelindulgenzen, die seit dem ausgehenden 13. Jahrhundert an der Kurie in Rom und Avignon in großer Zahl ausgegeben wurden. Nach einem kurzen Überblick zur Entwicklung der päpstlichen Kanzlei-Regeln ging Voigt auf die für den Raum Stade und Lüneburg erhaltenen Quellen ein: So sind diese Ablässe für das Kloster Zeven, das Kloster Heiligental, St. Marien in Hamburg, das Kollegiatsstift in Bücken oder die Jodokuskapelle in Stintstedt belegt. Neben den Pilgern, die an bestimmten Tagen Ablässe erhalten, wird der Ablass auch immer für Spenden an Bau und Ausstattung gewährt. Im Bereich solcher Indulgenzen gibt es noch viele ungehobene Schätze, wie Hartmut Kühne einwarf: So habe er kürzlich für die Jodokuskapelle in Lamstedt eine kuriale Sammelindulgenz aus dem Jahre 1300 entdeckt, die mit der Kapellengründung des benachbarten St. Joost vor 1360 in Zusammenhang stehen könnte.

Weiteren Forschungsbedarf mahnte auch Joachim Stüben (Hamburg) an. Bereits die ältesten Quellen wie das Itinerar des Abt Nikolaus, das Pilgerwege über den Ochsenweg von Haithabu über Itzehoe nach Stade beschreibt, geben Einblicke in die Entwicklung der Wallfahrtsrouten und der Sakraltopografie der Region. An zahlreichen Jakobuskirchen sowie Bruderschaften und Reliquien des Jacobus Major zeigt sich die rege Auseinandersetzung mit dem Pilgerdasein seit dem 13. Jh.. Wie seine Vorredner fordert Stüben die Tagungsgäste auf, aktiv zu werden und sich in die Quellenbestände von Gemeinden und kleineren Kirchen, sowie in Familienarchive und -sammlungen zu begeben: In der Diskussion ergänzt wurden zudem Pilgergraffiti, in denen Datierungen konkretisiert werden können.

Von den Möglichkeiten akribischer Forschung zeugten die im Anschluss präsentierten Ergebnisse von Renate Samariter (Greifswald) und Christian Popp (Göttingen) zu einer Reihe früher Pilgerzeichen – einer Kreuzigungsdarstellung sowie einer Marienfigur –, die gehäuft im mitteldeutschen Raum auftreten, aber auch in Dordrecht und Rostock archäologisch belegt sind: Möglicherweise stammen sie aus der Bischofsstadt Halberstadt, für die 1208 die Einführung eines „Festum Adventus Reliquiarum“ belegt ist, das mit feierlichen Reliquienweisungen begangen wurde und Gläubige in großer Zahl anlockte. Durch ihre Systematisierung von Abgüssen auf Glocken und Tauffünten stießen die WissenschaftlerInnen auf diese Pilgerstätte mit besonderer Strahlkraft. Das ikonografische Motiv der Kreuzigung geht wohl auf die monumentale Triumphkreuzgruppe zurück, die zumindest im 13. Jahrhundert so einzigartig und spektakulär war, dass sie als ‚Zeichen‘ für den Dom in Halberstadt fungieren konnte. Auch bezeugen die inzwischen in Petersburg wieder zugänglichen liturgischen Quellen, dass der Kreuzaltar als Ort der Reliquienfest-Liturgie diente. Das Marienbild hingegen verweist wahrscheinlich auf die Halberstädter Liebfrauenkirche, da eine dort angebrachte Ablasstafel aus dem späten 13. Jh. dieselbe Madonnenfigur zeigt. Kritisch zu hinterfragen bleibt nach Jörg Richter (Klosterkammer Hannover) jedoch die Definition als ‚Pilgerzeichen‘, da sie sehr groß seien und keine Ösen besitzen.

Durch den krankheitsbedingten Ausfall von Jan Friedrich Richter, schloss die letzte Sektion mit einem Vortrag von Edgar Ring (Lüneburg), der die Perspektive noch einmal auf die archäologischen Funde und Befunde richtete. Er verglich in seinem Vortrag die Ergebnisse der Ausgrabungen von drei Wallfahrtskapellen. Bereits in den 1920er Jahren wurde die St. Joos-Kapelle bei Stinstedt ergraben, wobei nicht nur die auf Eichenpfählen ruhenden Grundmauern der einstigen Fachwerkkapelle, sondern auch zugehörige Wohn- und Wirtschaftshäuser entdeckt wurden. Ein Teil der damals geborgenen Kleinfunde, darunter auch das Pilgerzeichen der Kapelle, gingen am Ende des 2. Weltkrieges verloren. Fragmente eines sog. „Mönchsbechers“ blieben allerdings erhalten und werfen Fragen nach der möglichen Weiternutzung der Anlage bis zum Ende des 16. Jahrhunderts auf. Eine zweite Ausgrabung betrifft die Marienkapelle von Lenzen (übrigens auch durch ein Pilgerzeichen im Stader Fund vertreten), wo zu Beginn der 2000er Jahre ebenfalls Grundmauern der einstigen Wallfahrtskapelle und von Wirtschaftsgebäuden entdeckt wurden. Die dort gemachten Keramikfunde von Trinkbechern bestätigten die Devise: Wallfahrt macht durstig – also den Zusammenhang von Wallfahrten und erhöhtem Bierausschank. Die etwa gleichzeitig mit Lentzen bei Bad Münder untersuchte Annenkirche und deren acht in Form einer städtischen Häuserzeile gereihten Nebengebäude stellen die bislang umfangreichste Grabung im Bereich der Wallfahrtsarchäologie dar. Allerdings konnten bislang nur außerhalb von Städten gelegene Wallfahrtsanlagen untersucht werden.

Die Abschlussdiskussion zeigte, dass durch das Tagungsthema und die zahlreichen Beiträge ein großes Portfolio an neuen Erkenntnissen und Fragestellungen entstanden war. So richtete sich das Interesse der Gäste durch die starke Präsenz der für viele bisher unbekannten Pilgerzeichen noch einmal auf deren Materialität und auch ihre ‚Magie‘ sowie ihre Funktion, etwa als Glockenabgüsse. Mit einem eindringlichen Aufruf an die TagungsteilnehmerInnen und Interessierten, ihr Wissen und weitere Ergebnisse in das laufende Forschungsprojekt sowie in die für 2020 geplante Ausstellung einzubringen, schloss Hartmut Kühne die Tagung. Wenn es gelingt, die interdisziplinären Zugänge der Tagung und das beeindruckende Detailwissen dieses Forschungs-Netzwerkes dort zusammenzutragen, darf man auf die Schau und den angesprochenen Begleitband mehr als gespannt sein!

Nadine Mai, Wedel

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