Von Rechnungen und einer Holztür

500 Jahre nach dem Beginn der Reformation in den protestantischen Territorien Norddeutschlands nach ehemaligen Wallfahrtskapellen zu suchen, ist nicht einfach, bietet aber immer wieder Überraschungen. Denn der Verlust von Gebäuden, Dokumenten und die selektive, protestantisch überformte Erinnerung an die einstige Geschichte stellt vor grundlegende Probleme der historischen Überlieferung.

Schon in den 1520er Jahren gerieten viele Wallfahrtskapellen durch einen enormen Ausfall ihrer Einnahmen in eine wirtschaftliche Krise. Die landesherrlichen Visitationen, mit denen die obrigkeitliche Reformation durchgesetzt wurde, sorgen für das Ende der Wallfahrten: Zahlreiche Kapellen wurden abgerissen oder verfielen, ihr Inventar wurde verkauft oder in andere Kirchen überführt. Die Erinnerung an diese Orte hielten oft  nur lokale Überlieferungen oder Sagen fest. Je mehr die Geschichte dieser Wallfahrten in die Vergangenheit rückte, um so undeutlicher wurde ihr Bild: Viele Kapellen wurden ganz vergessen, anderen Orten wurde durch eine protestantische Fehlinterpretationen ihrer „papistischen“ Vergangenheit eine historische Bedeutung zugeschrieben, die sie nie besessen haben. 

Vermutlicher Stadtort der ehemaligen Wallfahrtskapelle in Wohlde

Um sich nicht im Wald der nachträglichen Deutungen zu verlaufen, ist es gut, sich auf unverdächtige Quellen stützen zu können. Solche Quellen sind beispielsweise Rechnungsbücher der spätmittelalterlichen Landesverwaltung. Für das Fürstentum Lüneburg hat Heinrich Dormeier die Rechnungsüberlieferung für das Jahrzehnt von 1431 bis 1441 ausgewertet und seine Ergebnisse 1994 in einer mustergültigen Studie veröffentlicht. Auch für unsere Kenntnis der Wallfahrtspraxis finden sich hier zahlreiche Hinweise. Nach den hier versammelten Belegen muss die  Kapelle im „Berger Wald“, d.h. in dem heute zur Stadt Bergen gehörigen Ortsteil Wohlde, ein bedeutender Wallfahrtsort für das Fürstentum gewesen sein, denn der landesherrliche Vogt und sein Schreiber sammelten im 15. Jahrhundert regelmäßig Standgelder von jenen Buden ein, an denen 
Besuchern und Pilgern Lebensmittel und anderen Waren angeboten wurden. Vor allem am Sonntag „Exaudi“ unmittelbar vor Pfingsten strömte  hier eine große Menschenmenge „zum Ablass“ zusammen. Unter den regelmäßigen Besuchern waren auch die Fürsten von Lüneburg. Sie hatten in 1380er Jahren die Kapelle errichten lassen und diese 1406 dem Lüneburger Kloster Sankt Michael geschenkt. Seither kümmerten sich der Abt und der Konvent um die Wallfahrt; sie erbaten u.a. in Rom Ablässe für ihre Besucher und bezahlten einen Geistlichen, der die Kapelle versorgte.

Der Verfasser vor der Eichenholztür im Museum Römstedthaus in Bergen

Mit der Reformation kam das Ende der Wallfahrt, schon 1534 hatte die Kapelle keinen Geistlichen mehr, 1541 wurde sie abgerissen und ihre Steine als Baumaterial verkauft. Auch wenn heute nicht einmal der genaue Standort der Kapelle bekannt ist, hat sich offenbar ein Teil des Bauwerks erhalten: Bei dem Abriss der Kapelle soll ein Bürger aus Bergen die Kapellentür aus Eichenholz gekauft und in sein Brauhaus eingebaut haben. Dies berichtete jedenfalls der Sohn des Berger Pastors 1763 dem Lüneburger Lehrer und Historiker Ludwig Albrecht Gebhardi. Später als Tür eines Backhauses weitergenutzt, gelangte sie 1972 schließlich in das Heimatmuseum Römstedthaus in Bergen..

Hartmut Kühne

Bibliographische Irrwege oder ein Pilgerzeichen verschwindet

Forschung produziert meist neues Wissen, manchmal allerdings wird durch neue Erkenntnisse auch vermeintlich sicheres Wissen zerstört. Davon ist heute  zu berichten.

Eines der künstlerisch schönsten Pilgerzeichen aus dem heutigen Niedersachsen stammt aus der Goslarer Stiftskirche St. Simon und Judas, wo sich aus der Feier des Kirchweihtages am 2. Juli vom Ende des 13. bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts ein überregional besuchtes Reliquienfest mit einem bedeutenden Ablass entwickelte. Besucher dieses Festes konnten wohl seit dem späten 1500 Jahrhundert auch Pilgerzeichen erwerben.

Goslarer Pilgerzeichen, Umzeichnung von Carina Brumme

1983 kam in Amsterdam ein archäologischer Fund zum Vorschein: Die Minuskel-Inschrift „eccl[esia]goslari[ensi]s“ weist die Herkunft aus Goslar eindeutig aus. Es zeigt in einem reichen gotischen Architekturaufbau in der mittleren von drei Nischen den Apostel Matthias flankiert von den beiden Stiftspatronen Simon und Judas. In den Fächern darunter sind der Reichsadler als Wappenbild der Stadt Goslar sowie links und rechts je ein Reliquienschrein zu sehen. Diesem Zeichen hat der niederländische Kunsthistoriker und Altmeister der Pilgerzeichenforschung Jos Koldeweij 1993 einen Aufsatz im ersten Band des niederländischen Pilgerzeicheninventars „Heilig en profaan“ gewidmet und es dadurch bekanntgemacht.

Allerdings schien noch ein zweites, fast identisches Zeichen zu existieren. Der um die Goslarer Stadtarchäologie hochverdiente Hans-Günther Griep veröffentlichte in einem Heft unter dem Titel „Goslars Pfalzbezirk und die Domkurien“, das als „Jahresgabe für die Mitglieder des Museumsvereins Goslar e.V.“ hergestellt wurde, ein dem Amsterdamer Fund auffallend ähnliches Stück, das allerdings andere Maße haben sollte. Diese Publikation wird sowohl von den Bibliotheken als auch im Buchhandel stets mit der Angabe „Goslar 1967“ verzeichnet. Also kannte der Goslarer Heimatforscher bereits 16 Jahre vor dem Amsterdamer Fund ein ähnliches Zeichen!? Mit dem Start unseres Projektes begann also die Suche nach dem unbekannten Stück, die der Goslarer Propst i.R. Helmut Liersch engagiert unterstützte. Aber weder die Durchsicht sämtlicher bekannter Publikationen Grieps, des Depots des Goslarer Museums noch des Nachlasses des 2016 verstorbenen Forschers brachten einen brauchbaren Hinweis.

Die unerwartete Lösung ergab sich infolge einer Nachfrage beim Kunera-Projekt der Radboud-Universität Nijmegen. Der Kollege Willy Piron fand einen Artikel von Hans-Günther Griep aus einer Goslarer Lokalzeitung, in dem er im Oktober 1994 über den Amsterdamer Fund berichtete. Er hatte davon durch den Goslarer Hobbyhistoriker und Marathonläufer Franz Balaho erfahren, der im selben Jahr zum Rotterdamer Volkslauf gereist war und das Zeichen dort zufällig ausgestellt sah.

Der Fall schien damit gelöst, aber wie kam die Abbildung und Beschreibung dieses in Goslar erst seit 1994 bekannten Zeichens in eine Veröffentlichung von 1967? Durch eine falsche bibliografische Angabe, die bisher niemandem aufgefallen war! Griep hatte bereits 1967 einen Aufsatz mit dem Titel „Goslars Pfalzbezirk und die Domkurien“ in der Zeitschrift des Harzvereins veröffentlicht. Dieser Beitrag wurde von ihm in einer erweiterten Fassung unter dem selben Titel wohl erst 1994 oder etwas später als eigene Publikation nachgedruckt. Auf dem Titelblatt wurde bei vielen oder gar allen (?) Exemplaren das Jahr 1967 handschriftlich ergänzt – es war also die Angabe der Erstpublikation. Die falsche Maßangabe tat ihr übriges, um spätere Leser in die Irre zu führen.

Nun sind wir um ein Pilgerzeichen ärmer. Aber vielleicht findet sich durch weitere Recherchen künftig noch ein weiteres Exemplar des kleinen Goslarer Kunstwerks?

Hartmut Kühne

Überraschung zum 1. Advent: Ein Gebet von der Hand Konrads von Weinsberg wiederentdeckt

Konrad von Weinsberg IX. (1370-1448), Reichserbkämmerer unter Kaiser Sigismunds, war zugleich Finanzfachmann, adliger Unternehmer, Diplomat und die wohl bestinformierte Person ihrer Zeit. Er schrieb im Jahre 1441 mit eigener Hand ein Gebet, das mit einer Anrufung des „Heiligen Blutes“ beginnt: „Chum heil’ges Blut mir zu trost…“

Den gereimten Text von 34 Versen veröffentlichte der Oehringen Pfarrer und Heimatforscher Adolf Friedrich Fischer 1874 an entlegener Stelle, ohne anzugeben, wo er in dem umfangreichen Weinsbergischen Archiv (heute im Hohenlohe-Zentralarchivs Neuenstein, Außenstelle des Staatsarchivs Ludwigsburg) zu finden ist. Der historischen Spezialforschung war das Gebet zwar bekannt, aber seit Fischer scheint niemand mehr die Originalhandschrift konsultiert zu haben. Ein kundiger Forscher stellte 1967 fest, dass man gegenwärtig nicht wisse, wo dieses Gebet zu finden sei.

Aber auch der biografische und historische Zusammenhang des Textes war bisher unklar. Dies ist verwunderlich, denn am Ende des Gebetes wird es auf das Jahr 1441 datiert; in diesem Jahr besuchte Konrad von Weinsberg zwei Mal jenen Wallfahrtsort, der damals unter dem Namen „Heiliges Blut“ weit über das Reich hinaus bekannt war: das brandenburgische Wilsnack. Konrad von Weinsberg befand sich auf einer diplomatischen Mission im Auftrag des Baseler Konzils und hatte allen Grund, sich himmlischen Beistand zu erflehen: Als Protektor des Konzils hatte er im Auftrag des Kaisers große Summen aus seiner eigenen Tasche vorgestreckt. Nun sollte er beim Deutschen Orden Gelder für die Kirchenversammlung eintreiben, durch die schließlich auch seine Ausgaben gedeckt würden. Diese Unternehmung misslang und der Adlige steckte am Ende seines Lebens über beide Ohren in Schulden. Uns hinterließ er mit seinem Gebet aber ein in dieser Form einzigartiges Zeugnis von einem Besucher Wilsnacks.

Die Wallfahrt entfaltete im 15. Jahrhundert eine starke Anziehungskraft im europäischen Norden, besonders  aber im norddeutschen Raum. Davon zeugen auch jene 18 Wilsnacker Pilgerzeichen, die im Stader Hansehafen gefunden wurden.

Wilsnacker Pilgerzeichen aus dem Stader Hansehafen 

Unsere Vermutungen zum Zusammenhang des Gebetes mit der Wilsnacker Wallfahrt war für die Mitarbeiter des Hohenlohe-Zentralarchivs Neuenstein erfreulicherweise Anlass, sich im Herbst 2018 auf die Suche nach der Handschrift zu machen. Als kaum noch Hoffnung bestand, den Text zu identifizieren, führte schließlich der Hinweis auf das Rechnungsbuch der Reise Konrads im Jahr 1441 zum Ziel: Seit dem 1. Dezember 2018 wissen wir, dass der Adlige seine Anrufung des Heiligen Blutes auf der letzten Seite seiner ‚Spesenrechnung‘ notierte (Signatur HZAN GA 15 Schubl. PNr. 40, neue vorläufige Signatur GA 15 Nr. 1909). Der Ort der Niederschrift bestätigt die Vermutung, dass in dem Gebet das in Wilsnack verehrte „Heilige Blut“ angesprochen wird. Wir hoffen, die Handschrift in unserer  Ausstellung im Jahre 2020 zeigen zu können.

Unser Dank gilt dem Hohenlohe-Zentralarchiv Neuenstein, insbesondere Dr. Ulrich Schludi und Helmut Wörner für ihre engagierte Unterstützung!

Hartmut Kühne