Forschung produziert meist neues Wissen, manchmal allerdings wird durch neue Erkenntnisse auch vermeintlich sicheres Wissen zerstört. Davon ist heute zu berichten.
Eines der künstlerisch schönsten Pilgerzeichen aus dem heutigen Niedersachsen stammt aus der Goslarer Stiftskirche St. Simon und Judas, wo sich aus der Feier des Kirchweihtages am 2. Juli vom Ende des 13. bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts ein überregional besuchtes Reliquienfest mit einem bedeutenden Ablass entwickelte. Besucher dieses Festes konnten wohl seit dem späten 1500 Jahrhundert auch Pilgerzeichen erwerben.
1983 kam in Amsterdam ein archäologischer Fund zum Vorschein: Die Minuskel-Inschrift „eccl[esia]goslari[ensi]s“ weist die Herkunft aus Goslar eindeutig aus. Es zeigt in einem reichen gotischen Architekturaufbau in der mittleren von drei Nischen den Apostel Matthias flankiert von den beiden Stiftspatronen Simon und Judas. In den Fächern darunter sind der Reichsadler als Wappenbild der Stadt Goslar sowie links und rechts je ein Reliquienschrein zu sehen. Diesem Zeichen hat der niederländische Kunsthistoriker und Altmeister der Pilgerzeichenforschung Jos Koldeweij 1993 einen Aufsatz im ersten Band des niederländischen Pilgerzeicheninventars „Heilig en profaan“ gewidmet und es dadurch bekanntgemacht.
Allerdings schien noch ein zweites, fast identisches Zeichen zu existieren. Der um die Goslarer Stadtarchäologie hochverdiente Hans-Günther Griep veröffentlichte in einem Heft unter dem Titel „Goslars Pfalzbezirk und die Domkurien“, das als „Jahresgabe für die Mitglieder des Museumsvereins Goslar e.V.“ hergestellt wurde, ein dem Amsterdamer Fund auffallend ähnliches Stück, das allerdings andere Maße haben sollte. Diese Publikation wird sowohl von den Bibliotheken als auch im Buchhandel stets mit der Angabe „Goslar 1967“ verzeichnet. Also kannte der Goslarer Heimatforscher bereits 16 Jahre vor dem Amsterdamer Fund ein ähnliches Zeichen!? Mit dem Start unseres Projektes begann also die Suche nach dem unbekannten Stück, die der Goslarer Propst i.R. Helmut Liersch engagiert unterstützte. Aber weder die Durchsicht sämtlicher bekannter Publikationen Grieps, des Depots des Goslarer Museums noch des Nachlasses des 2016 verstorbenen Forschers brachten einen brauchbaren Hinweis.
Die unerwartete Lösung ergab sich infolge einer Nachfrage beim Kunera-Projekt der Radboud-Universität Nijmegen. Der Kollege Willy Piron fand einen Artikel von Hans-Günther Griep aus einer Goslarer Lokalzeitung, in dem er im Oktober 1994 über den Amsterdamer Fund berichtete. Er hatte davon durch den Goslarer Hobbyhistoriker und Marathonläufer Franz Balaho erfahren, der im selben Jahr zum Rotterdamer Volkslauf gereist war und das Zeichen dort zufällig ausgestellt sah.
Der Fall schien damit gelöst, aber wie kam die Abbildung und Beschreibung dieses in Goslar erst seit 1994 bekannten Zeichens in eine Veröffentlichung von 1967? Durch eine falsche bibliografische Angabe, die bisher niemandem aufgefallen war! Griep hatte bereits 1967 einen Aufsatz mit dem Titel „Goslars Pfalzbezirk und die Domkurien“ in der Zeitschrift des Harzvereins veröffentlicht. Dieser Beitrag wurde von ihm in einer erweiterten Fassung unter dem selben Titel wohl erst 1994 oder etwas später als eigene Publikation nachgedruckt. Auf dem Titelblatt wurde bei vielen oder gar allen (?) Exemplaren das Jahr 1967 handschriftlich ergänzt – es war also die Angabe der Erstpublikation. Die falsche Maßangabe tat ihr übriges, um spätere Leser in die Irre zu führen.
Nun sind wir um ein Pilgerzeichen ärmer. Aber vielleicht findet sich durch weitere Recherchen künftig noch ein weiteres Exemplar des kleinen Goslarer Kunstwerks?
Hartmut Kühne